Musik"theorie" - mir widerstrebt hier schon das Wort, weil es eben eine Nähe zu Relativitätstheorie und Quantenmechanik nahelegt, die sie einfach nicht verdient hat - ist so von Ausnahmen, Relativierungen und Ungenauigkeiten durchsetzt, dass sie meines Erachtens bestenfalls eine Pseudowissenschaft ist.
Das, was landläufig als "Musik
theorie" bezeichnet wird und worauf sich die SchülerInnen in Kursen in Musiktheorie (aber auch Gehörbildung) vorbereiten, nämlich dem "theoretischen" Teil einer Aufnahmeprüfung, ist nicht mal Pseudowissenschaft. Sie ist schlicht -
gar keine Wissenschaft.
Du hängst dich am wissenschaftlichen Begriff der "Theorie" auf, wie er ausdrücklich in Zusammenhängen wie "Relativitätstheorie", "Evolutionstheorie" usw. vorkommt. Aber Musiker sind keine Wissenschaftler.
Die Wissenschaftler, die z.B. durch Messungen der Geschwindigkeiten von Sternen und vielen anderen Experimenten die rein mathematisch und theoretisch formulierten Thesen von Einstein bewiesen haben und immer noch beweisen (z.B. relativ aktuell die Messung des "Echos" vom Urknall), diese Wissenschaftler machen zwar
praktische Versuche, sind aber immer auch sattelfest in der zugehörigen Mathematik und Physik. Denn ohne dieses Wissen und diese Voraussetzungen könnten sie in diese Materie überhaupt nicht ansatzweise eindringen.
Musiker, also
musizierende, aufführende Musiker sind aber zuallererst
Praktiker, keine Theoretiker. Die "Theorie", die ja in der Tat ein rein beschreibende und über die verschiedenen Genres, Stilistiken und Ethnien eine stark variable und sehr breit gefächerte Angelegenheit ist, diese Theorie kann ihnen helfen, tiefer in die Praxis einzudringen, indem Zusammenhänge, Strukturen, aber auch Unterschiede beschrieben und erklärt werden.
In diesem Sinne ist der Begriff "Theorie" hier in einem mehr umgangssprachlichen Sinne gemeint: "Theorie" einfach als Unterscheidung zur "Praxis".
Und in dieser Praxis spielt die Theorie individuell für jeden Musiker, jede Musikerin eine sehr unterschiedliche Rolle. Es gibt welche, die sich mehr darin vertiefen, und andere, die es weniger machen.
Aber auch die, die es weniger machen, könnten fantastische Musiker sein - nämlich qua Intuition, qua ihres tiefen musikalischen Empfindens. Und (nicht nur, aber ganz besonders) als Ensemblespieler qua sehr gutem Gehör, großer musikalischer Sensibilität und gutem Einfühlungsvermögen in den Gesamtklang, in den Gesamtzusammenhang.
Nebenbei bemerkt spielt selbst in der "echten" Wissenschaft die Intuition ebenfalls eine nicht geringe Rolle, z.B. bei der Ausarbeitung von Experimenten, sogar bei der Abfassung von Theorien. Aber wie gesagt, wird jemand in den echten Wissenschaften kein Bein auf die Erde bekommen ohne fundierte Kenntnisse der theoretischen Hintergründe. Und ohne diese wird es dann dort auch nichts geben, wo seine Intuition eine Chance hätte anzuknüpfen.
Deshalb halte ich es für besser, den Begriff "Theorie" in der Musik nicht so hoch zu hängen. Für praktizierende Musiker ist die "Theorie" individuell mehr oder weniger wichtig, aber in jedem Fall bleibt die "Theorie" ohne praktische Realisierung in
erklingender Musik ein seelenloses und damit nutzloses Gebilde.
Im Übrigen kenne ich genug Beispiele, wo (gerade auch professionelle) Musiker im Notensinn alles "richtig", ja geradezu "perfekt" spielen, ihr Spiel aber spannungslos, langweilig und unbeseelt bleibt. Virtuosen im schlechten Sinne. Ohne Intuition und tiefes musikalisches Empfinden geht es nicht. Und diese Elemente wüsste ich nicht theoretisch zu erklären oder zu formulieren.
In meinen Augen ähnelt sie sogar am ehesten einer Religion, oder besser der Theologie. Das, was z. B. @Ockham's Razor als die Quintessenz seines zweifellos enormen Wissens hier präsentiert hätte, gleicht einer fundierten Kenntnis der Bibel. Toll - vielleicht sogar großartig - solange man die Bibel selbst nicht in Frage stellt. Ich tue das aber und denke, jeder sollte das tun.
Dem Vergleich mit Religion oder Theologie mag ich nicht recht folgen.
Kann nur jemand Musik genießen, der daran "glaubt"?
Es gibt den Satz, dass der Gesang dort beginnt, wo die Ausdrucksmöglichkeiten des gesprochenen Wortes aufhören. Die Musik überhöht und vertieft dann das Gesagte. Der Gesang erhebt die Worte in eine höhere Sphäre, die uns noch tiefer berührt. Ob das so stimmt sei dahin gestellt, gefühlsmäßig würden es wohl die meisten so nachvollziehen.
Solche Sätze klingen sicherlich wie religiöse Metaphern. Es mag auch sein, dass solcherart musikalische Empfindungen und Sehnsüchte tiefenpsychologisch oder anthropologisch einer ähnlichen inneren menschlichen Quelle entspringen wie die religiösen Bestrebungen über Menschheitsgeschichte.
Aber für mich bleibt Musik Musik und Religion Religion. Enge Berührungen und gegenseitiges Befruchten wie in der sakralen Musik, auch über alle Ethnien hinweg, liegt da nahe, ist aber auf keinen Fall gültig für Musik im Allgemeinen.
Es wäre ja sonst areligiösen Menschen und Atheisten gar nicht möglich, Musik tiefer oder überhaupt zu empfinden?
Aber auch, wenn dein Vergleich sich nur auf die "Theorie" in der Musik beziehen soll, möchte ich widersprechen.
Denn erstens ist die "Theorie" in der Musik nur beschreibend und damit in keiner Weise vergleichbar mit Theologie, die sehr streng Regeln für und im Glauben festlegen will. Als Paradebeispiel will ich den soeben verstorbenen Ex-Papst Benedikt/Ratzinger nennen, der bekanntlich ein Über-Theoretiker der Theologie war. und damit die verkrusteten Strukturen der katholischen Kirche nur noch weiter verfestigt hat. Wobei dieses Beispiel zeigt, dass sich selbst in so einem hierarchischen Konstrukt wie der Institution Kirche die "Theorie" von der "Praxis" massiv entfernen kann, soweit, dass sich ihr zentraler Gegenstand - der Glaube - regelrecht pervertiert, in der übertheoretisierten Theologie ins Absurde abgleitet. Die "Theorie" funktioniert also auch da nicht wirklich wenn sie verabsolutiert wird.
Anmerkung: Es gibt in der Musik in der Tat Theoretiker, die ihre "Theorie" wie eine Art Bibel betrachten und sie so streng angewendet sehen wollen wie die (Über-)Theologen die Theologie, das kann ich bestätigen.
Aber das würde ich nicht dem System oder der "Musiktheorie" anlasten, sondern diesen jeweiligen Personen.
Es gibt noch etwas, wo sich Musik von Religion unterscheidet. Auch wenn ich permanent davon rede, dass die Musiktheorie nicht den echten, exakten Wissenschaften vergleichbar ist, so gibt es doch rund um die Musik etliche Bereiche, die sich streng wissenschaftlich betrachten lassen. Da wären zu nennen die Physik des Schalls, die Akustik, die Psychoakustik, Biologie, Physiologie und Neurologie des Hörens, Musikgeschichte, Musik-Soziologie.
In Religion und Theologie kenne ich solche vertiefenden wissenschaftliche Hintergründe nicht.
Jemand, der Musik wirklich gelebt, empfunden und auf allerhöchstem Niveau erschaffen hat, stellt fest, dass die "erlaubten" Mittel eben nicht genügen. Und so erfindet er "harmonisch Moll". Oder war es "melodisch"..? Er war ein Genie, hatte deshalb Erfolg und so kritisieren wir nicht IHN, sondern ändern schnell unsere "Theorie".
Da die "Theorie" in der Musik eine beschreibende ist mit einer nur jeweilig begrenzten Gültigkeit in Bezug auf Stile, Genres, Epochen kann es gar nicht anders funktionieren, als dass sich die "Theorie" stets dem Fluss der kreativen Schaffensprozesse anpasst. Wobei wie gesagt, insbesondere die "Genies" in der Regel sehr gut unterrichtet waren in die wesentlichen kompositorischen und stilistischen Mittel ihrer Epoche und mindestens in Ausschnitten, oft sogar sehr detailliert, auch über die Struktur der Musik früherer Epochen. Keiner hat jemals aus dem Nichts etwas erschaffen.