@LoboMix - sehr interessante Gedanken, denen ich in weiten Teilen zustimme.
@music_forever - jetzt kommt der Thread an einen wichtigen und guten Punkt, nämlich zur Frage nach dem richtigen Werkzeugkasten. Und selbst wenn Werkzeuge angewandt wurden und die Analyse auf dem Papier fertig ist, ist sie oft erst richtig brauchbar, wenn das Ergebnis in offen gebliebenen Fragen besteht, die aber eine tiefgehende Beschäftigung mit dem Gegenstand erkennen lassen.
Dieser Thread ist ein gutes (oder schlechtes?) Beispiel dafür, wie sehr man in die Irre gehen kann, wenn man für die Arbeit ein falsches bzw. unpassendes Werkzeug benutzt. Und die Funktions-Harmonik mit ihrer Ausrichtung auf kadenzierende Strukturen und überhaupt der ihr zugrunde liegenden Dur-Moll-Tonalität ist bei Debussy ganz gewiss ein unpassendes Werkzeug.
Debussys ganzes Streben und Schaffen ist vollkommen darauf ausgerichtet, eben diese herkömmliche Dur-Moll-Tonalität zu überwinden.
In meiner Ausbildung war ein wesentliches Ergebnis, dass Funktionsharmonik bei jedem Komponisten unterschiedlich gewichtet und gedeutet werden muss. Eine Tonika z.B. bei Mozart ist nicht gleich einer Tonika bei Wagner, denn Wagner hatte ganz andere Möglichkeiten der Umspielung, in-Frage-Stellung, Bekräftigung und des Aufbauens von Spannungsverhältnissen als Mozart. Jeder Komponist schafft sich seine eigene harmonische Welt (seinen Harmonik-Personalstil), und der im jeweiligen Stück stabilste und zentralste Ort ist das, was wir als Tonika bezeichnen. Der Begriff ist relativ innerhalb der harmonischen Ästhetik des Komponisten. Wenn von da aus Harmonien im Quintverhältnis nachweisbar sind (im einfachsten Falle S und D, aber auch DD etc.), entstehen kadenzierende Strukturen und damit Funktionsharmonik, was die Tonika stabilisiert.
Hier in Debussys Elegie sind keine klaren kadenzierenden Strukturen erkennbar, da stimme ich dir zu.
Angedeutete aber schon, und diese angedeuteten rechtfertigen meiner Ansicht nach, von einem harmonischen Zentrum d-Moll zu sprechen, von dem aus kontrastierende Harmonien Spannungen aufbauen: z.B. Am in Takt 8, Bb7/9 in Takt 9, alle Akkorde in 17/18. Die sind alle nicht genauso schlussfähig wie die d-Moll-ähnliche Harmonie, die sich am Schluss über drei Takte hinweg (19/20/21) stabilisiert. Wenn es aber eine Hierarchie "zentrale Harmonie" - "nicht zentrale Harmonie" gibt, ist das dann Debussys Version von funktionaler Harmonik, weil er eben den Harmonien Funktionen zuordnet.
In dieser Überwindung begründet sich auch seine geradezu revolutionäre und vergleichsweise singuläre Stellung in der Musikgeschichte, auf jeden Fall in seiner Epoche.
Da hatte z.B. Schönberg aber schon gegen 1907/8 mit dem 2. Streichquartett oder den Werken im "
Watschenkonzert" (1913) die herkömmliche Dur-Moll-Tonalität deutlicher überwunden.
Bei Debussy muss man hingegen vor allem bei den Akkorden an Klangfarben-Akkorde denken. Es gibt weiche, offene, enge, scharfe, warme, schmerzliche Klänge usw. Debussy lotet diese Farben aus, entwickelt sie, kontrastiert sie und bettet seine melodischen Strukturen und Abläufe in sie ein.
Finde ich eine sehr gute Herangehensweise. Gerade bei Musikanalyse im schulischen Umfeld (was deine Arbeit,
@music_forever ja wohl ist), wird man mit emotionalen Adjektiven so einer Musik besser gerecht als durch Abstraktionen.
Ich würde folgende Dinge mal in den Blick nehmen:
Takte 1-4, rechte Hand: Es bauen sich Quart- und Quintschichtungen aus den Tönen d,g und a auf. In den Takten 1,2 und 3 wird d oktavverdoppelt, in Takt 4 der Ton a. Der Ton g kommt nur in den ersten zwei Takten vor. Die durch Häufigkeit und Lage nachweisbare Wichtigkeitshierarchie der Töne ist also: d ist der wichtigste Ton, dann a, dann g.
Linke Hand: eine cantabele Melodie beginnt in Tenorlage auf dem Ruhepunkt h, dieser wird in Sekundschritten umspielt. Bei den Umspielungen treten drei später wichtige rhythmische Elemente auf: Achtelnoten, Vorschläge (die nahe an den späteren 32tel-Noten sind) und Achteltriolen. Nächster Ruhepunkt ist ein Halbton tiefer auf b in Takt 2. Die Melodie beschreibt in Takt 3/4 eine Wellenbewegung, die sie aber letztendlich abwärts in Basslage auf A in Takt 5 als neuen Ruhepunkt führt. Bis dahin wurden Töne verwendet, die zu d-Moll gehören - nur ob es d-Moll mit h oder b ist, wurde nicht geklärt. Das prominente h aus Takt 1 verhindert eine idyllische Einfachheit. Ich denke: beide Möglichkeiten h/b bleiben. Aber die inhaltlichen Hinweise (neben dem formalen Hinweis der Tonart-Vorzeichen), die Debussy auf d-Moll gibt, sind schon bedeutend.
Takt 6-7:
Indem die Melodie F# als tiefsten Ton mit 32tel-Umspielungen erreicht und drauf beharrt, die Oberstimmen rhythmisch aktiver (16tel-Synkope) sich beteiligen und eine kontrastierende Harmonik zu den Takten 1-4 erreicht wird (durch die Septime G-f und den dissonanten, nicht als Terzschichtung beschreibbaren Gesamtklang F#-e-c'-e'), wird die Harmonik hier kurzzeitig bedeutender für den Tonsatz als die Bassstimmen-Melodik.
Takt 8-9:
Die Harmonik wird deutlich weniger komplex (als Terzschichtung beschreibbar: a-Moll in Takt 8, Bb-Septim-Non-Akkord im 9), dafür wird die Melodie, mittlerweile dauerhaft in Basslage auf den drei Tönen E,F,G, wieder bestimmend für den Tonsatz. Sie umspielt mit den drei bekannten rhythmischen Mitteln den Zentralton F auf Schlag 3 in beiden Takten.
Takte 10/11 als Einheit und der Takt 12:
Fünfklänge: jeweils zwei Töne rechts, dazu drei andere links, wobei diese drei rechts sehr einfache Dreiklänge ergeben (Am, C, Bb). Die zwei Töne links gehen von der Quinte D-A aus, in der tiefsten Stimme wird die Melodie wie bekannt mit Sekund- und Terzschichtungen weitergeführt. In 10/11 schwingt sie sich nur im Ambitus einer Quarte auf, in 12 dann bis hinauf in die Tenorlage, die vom Anfang her bekannt ist.
Takt 13:
bringt einen Energiezuwachs, weil die Stimmen maximal eng zusammenrücken: zuerst b-c-d-e auf Schlag 2, dann sogar h-c-d-e auf Schlag 4. Da ist übrigens der b-h-Gegensatz vom Anfang wieder. Die aktiveren Rhythmen bewirken in meinen Ohren unruhige Aktivität, oftmaliges Anlaufen ohne ein klares Ziel zu erreichen.
Takt 14-15:
Hier wird ein Ziel erreicht: eine Pentatonik auf c, aber mit d als Zentralton. Die Melodie steigt ab in die Basslage und ist identisch zu Takt 3. Und auch in 15 ist sie noch ähnlich zu 4, geht aber konsequenter abwärts, und...
Takt 16:
dissonantester Klang des Stückes (wegen A-as und F-fes)
Takt 17-18:
vom Septim-Non-Akkord auf e werden zwei mögliche Weiterführungen mit jeweils noch höherem Dissonanzgrad erreicht. Die Rhythmik erreicht gleichzeitig maximale Einfachheit und Ruhe.
Takt 19: d'-g-a-d'' ist das, was man woanders einen Quartvorhalt vor d-Moll nennt. Bei Debussy ist es nicht unbedingt ein Vorhalt, weil eben keine Auflösung direkt folgt (bzw. folgen muss). Trotzdem ist es eine Referenz auf d-Moll. Später...
Takt 20-21: ...wird das g zum f in der Melodie, also passiert das, was im klassischen Quartvorhalt auch passiert. Das f wird aber wieder verlassen, die Auflösung ist also nicht von Dauer. Die rechte Hand hat dazu den leeren Quart-/Quintklang a-d-a. Entscheidend für diese zwei Takte ist aber, dass die Melodie unter den Tonumfang einer singbaren Basslinie geht und vor allem auf Kontra-A endet. Die Melodie steigt in Untiefen hinab, vielleicht bis ins Grab. Und sie endet auf A, einem Ton, der nun wirklich keine Erlösung in so einem tonalen Umfeld verspricht.
Man könnte die Bewegungen der Melodie als das Wandeln eines lyrischen Ichs deuten. Immerhin steht sie in einer gesanglichen Lage für eine Männerstimme. Sie wandert, sie findet, sie irrt, sie scheitert, aber vor allem sucht und findet sie keine Erlösung. Am Tiefpunkt ihres Daseins ist sie noch eine unbestimmte Zeit existent (Haltebogen am letzten Ton), aber dann verlöscht sie ins Nichts. Nur ein leerer Quart-Quint-Klang überdauert sie (Quarten und Quinten sind elementare Intervalle in der Obertonreihe und können für die Natur stehen). Das ist ziemlich genau die Realität auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs, die sich 100km vor Paris abspielte. Diese Verbindung/Deutung ist nicht zwingend, aber angesichts der historischen und biographischen Umstände naheliegend.