Du hast die schöne Müllerin schon mal gehört oder gesungen?
Meine sängerischen Fähigkeiten reichen nicht aus, um dieses Werk einzustudieren oder gar, um zu wagen, es öffentlich vorzutragen, bin ja auch kein Sänger.
Ich kenne es dennoch recht gut, zusammen mit der "Winterreise" ist es wohl einer der genialsten Liederzyklen der Musikgeschichte und außerdem eines meiner Lieblingswerke überhaupt.
Das letzte Lied (die Nr. 20 Des Baches Wiegenlied) ist in E-dur, würde man es in Es-dur spielen wäre es ein "Begräbnislied", aber in E-dur ist es das schockierende Ende des in den Wahnsinn getriebenen.
Es steht außer Frage, dass Schubert die Tonartenfolge seiner Zyklen nicht einfach so gewürfelt hat, sondern dass ein Konzept dahinter steckt. Soweit bekannt hatte er auch sein eigens Konzept der Tonartensymbolik, die weit verbreiteten Schriften zu diesem Thema seines Zeitgenossen Daniel Schubart waren ihm sicher auch bekannt. Die Zuordnung bestimmter, recht konkreter Affekte zu bestimmten Tonarten zieht sich als Konzept quer durch die Musikgeschichte, wobei den Protagonisten dieser Auffassungen seit je auch ebensoviele Kritiker gegenüber standen, die diese Affekte-Tonarten-Zuordnung anzweifelten. Die Zuordnungen sind auch keineswegs konstant, auch wenn sich gewisse Gesetzmäßigkeiten finden lassen, die in den allermeisten Fällen mit der Eignung bestimmter Instrumente, bzw. deren Stimmungs-Varianten zu tun hatten (wie ich es weiter oben am Beispiel der Ventil-losen Hörner ausgeführt hatte).
Neben dem unvermeidlichen Wikipedia-Artikel [
https://de.wikipedia.org/wiki/Tonartencharakter] fand ich dazu auch einen sehr interessanten Essay:
https://www.google.com/url?sa=t&rct...wr-12520.pdf&usg=AOvVaw3zobW3bmLMVPC6IY5PIX91
Dass Schubert also sehr bewusst eine bestimmte Abfolge an Tonarten in seinem Zyklus wählte und dahinter seine ganz eigene Zuordnung zu Affekten und Stimmungen steckt, damit sollte sich jeder Sänger, der diesen Zyklus einstudiert auf jeden Fall auseinander setzen. Inwieweit diese Tonart-Kontraste über die Dauer des Zyklus auch tragen und in welcher Intensität, möchte ich dahin stellen und hinterfragen. Es gibt sehr oft konstruktive Konzepte, die dem Komponisten sozusagen einen roten Faden für die Werkgestaltung an die Hand geben, die aber nach außen hin nicht oder nur wenig wirksam sind.
Der Kontrast von einem Lied zum nächsten wird sicher jedem auf irgendeine Weise auffallen [hier ist die Tonartenfolge der Lieder zu finden:
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_schöne_Müllerin], ganz zu schweigen von den wirklich genialen Ausleuchtungen und Ausdeutungen der Texte durch die Akkordfortschreitungen
innerhalb der Lieder, die eine sehr nachdrückliche, weil
unmittelbare Wirkung entfalten. Ob aber außer den Absolut-Hörern (die auch unter Profis in der Minderheit sind) den Konzertbesuchern nach knapp 1 Stunde noch auffällt, dass das letzte Lied in E-Dur im Tritonusabstand zum Eröffnungslied in Bb-Dur steht, wage ich stark zu bezweifeln. O.k., die Lieder 12 und 13 stehen auch in Bb-Dur, aber die liegen auch schon rund 20 Minuten zurück, wenn das letzte Lied beginnt.
Ob sich also der Charakter des letzten Liedes für die Hörer signifikant ändert oder überhaupt ändern würde, wenn man es statt in E-Dur in Eb-Dur singen würde, käme auf einen Versuch an. Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich neige zu "nein", wahrscheinlich auch für Absolut-Hörer, wenn sie nicht gerade die Noten vor Augen oder das Lied in E-Dur gut ´im Ohr´ haben.
Es ist mir völlig egal wer was in welcher Tonart singt, aber ich bitte auch um Verständnis für jene die das nicht tun wollen, die eine Besonderheit in "originalen" Tonarten finden mögen.
Da musst du nicht um Verständnis bitten. Es gibt absolut keinen Grund, das Binnenverhältnis der Tonarten des Zyklus zu ändern. Im Gegenteil würde ich das ebenfalls als einen unzulässigen Eingriff in das Werk ansehen.
Es gibt die drei Fassungen für die hohe, mittlere und tiefe Stimmlage, womit für alle, die stimmlich überhaupt in der Lage sind, den Zyklus zu bewältigen, eine adäquate Fassung vorliegt.
Zur "originalen" Tonart der ersten Fassung für hohe Stimme noch eine Anmerkung:
Man kann davon ausgehen, dass Schuberts Hammerflügel in der zu seiner Zeit in Wien gebräuchlichen Stimmung mit Bezug auf A´=421/422 Hz gestimmt war. Im Vergleich zur heutigen Stimmung mit A´=440 Hz ist das knapp 1/2 Ton tiefer (wenn jemand sein Klavier auf 445 Hz stimmt ist es sogar fast genau 1/2 Ton).
Dementsprechend müsste man eigentlich den "originalen" Zyklus komplett um 1/2 Ton nach unten transponieren um dem "originalen" Klang näher zu kommen.
Aber halt: zu Schuberts Zeiten gab es die modernen Klaviere und Flügel noch gar nicht, es gab nur deren Vorläufer, die Hammerklaviere bzw. Hammerflügel. Und die klingen ganz anders als die modernen Nachfahren.
Wenn man den Gedanken der "Originalität" auf die Spitze treibt, öffnet sich ein Dilemma nach dem anderen, ach herrjeh ...
Macht mir aber nichts, denn ich darf mich glücklich schätzen, dass ich von Schuberts Liedern und vor allem auch seinen seinen Liederzyklen stets emotional tief berührt werde. Egal, ob sie von einer hohen, tiefen oder mittleren Stimme gesungen werden, von Mann oder Frau, oder ob das Klavier auf 440, 438, 443 Hz oder wo auch immer gestimmt ist. Vielleicht bin ich auch zu unempfänglich für die Feinheiten,
who knows (bin im übrigen kein Absolut-Hörer und auch kein Synästhetiker).
Was ich aber wirklich bedauere, ist, dass es meinem von mir so hoch verehrtem Sänger Fritz Wunderlich durch seinen tragischen frühen Unfalltod nicht vergönnt war, auch den Zyklus "Die schöne Müllerin" komplett aufzunehmen, was er sicher später noch gemacht hätte. So gibt es nur die "Winterreise" von ihm, immerhin.