Eine spannende Diskussion wie ich finde!
Denn spontan ist man geneigt zu sagen "... ist doch klar, Töne, die nicht in den Noten stehen oder Töne, die nicht sauber intoniert sind, sind doch einfach falsch!". In den allermeisten Fällen wird das auch genauso zutreffen und wenn sich dann jemand mit "künstlerischer Freiheit" heraus reden will, wird man das kaum ernst nehmen können, sondern es ihm als lausige Stümperei ankreiden.
Bei näherer Betrachtung bin ich dann doch ins Grübeln gekommen. Denn es gibt tatsächlich viele Bereiche in der Musik, wo sich das "falsch" mit der "künstlerischen Freiheit" tatsächlich beißt und die Kategorien "richtig" und "falsch" nicht ausreichend oder sogar nicht zutreffend und genau genommen nicht anwendbar sind.
Einige Beispiele:
Vor einiger Zeit lauschte ich einem Gespräch zweier Orchestermusiker, die sich sehr über die Beethoven-Interpretationen von Nikolaus Harnoncourt echauffierten und sie als falsch bezeichneten. Zitat "... das hat mit Beethoven nichts zu tun!".
Oder die Bach-Interpretationen von Glenn Gould. Er war ein sehr eigensinniger Charakter und seine Bach-Einspielungen spalten immer noch die Hörer, von "Puristen" werden sie als "falsch" total abgelehnt.
Beide, Harnoncourt und Gould, waren Musiker, die sich sehr intensiv mit der Musik beschäftigt haben und ihre Interpretationen mit großer Akribie ausfeilten. Dabei kamen beide auf Ideen, die abseits der ausgetretenen Pfade lagen (und immer noch liegen), die aber sehr zu faszinieren wissen (mich jedenfalls) aufgrund ihrer Konsequenz und ihrer Energie, und nichts davon ist auch nur eine Spur langweilig.
Die späten Werke Beethovens, vor allem seine späten Streichquartette, wurden von den meisten Zeitgenossen abgelehnt und als "falsch klingend" abgekanzelt, wobei man es auf seine Schwerhörigkeit schob. Erst die Nachwelt konnte das Neue darin akzeptieren und faszinierend finden.
Noch ein Beispiel mit "schrägen Tönen":
Halb gezogene Orgelregister (geht nur mit mechanischen Registerzügen) lassen die Pfeifen total schräg, verhaucht und "daneben" klingen, alles "falsch" sozusagen.
Aber um eine bestimmte, eben schräge, vielleicht auch düstere, aber andererseits auch je nach Kontext komische Stimmung zu erzeugen sind solche halb gezogenen Register genau "richtig".
Da sich die Kategorien "richtig" und "falsch" in Fällen wie diesen nicht hilfreich anwenden lassen, möchte ich gerne eine neue Kategorie in diesen Thread einführen, ein Denkweise, der ein mir befreundeter Jazz-Pianist schon immer gefolgt ist, auch und gerade im Hinblick auf das Improvisieren: etwas "
funktioniert" oder "
funktioniert nicht".
Der "falsche" Ton, die "schräge" Intonation kann funktionieren, um ein bestimmtes musikalisches Ziel zu erreichen, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. Dabei kann es sich sogar um Zufallsfunde handeln, ein "Fehler" im ursprünglichen Sinn, den man plötzlich als interessanten Effekt, als spannenden Klang hört und ihn danach konkret als Absicht ins Stück einbaut.
Das erfordert allerdings ein wirkliches und tiefes Verständnis von Musik und den Stücken, die man spielt. Bei 99% der Spieler bleibt es schlicht beim "Fehler", nur bei 1% ist dann plötzlich "genial". Nur zur Vorbeugung: Stümperei lässt sich nicht einfach wegdefinieren, da muss mehr dahinter sein, um den "Fehler" zur "Kunst" zu machen.
Es erfordert zudem vom Zuhörer die Bereitschaft, sich Neuem zu öffnen. Die beiden oben zitierten Orchestermusiker würde ich z.B. als "stockkonservativ" und dem Neuen und Anderen gegenüber als verschlossen bezeichnen.
Das ist mir jetzt zu streng! dann wäre ja jede Verzierung prinzipiell etwas Falsches! und da du Händel erwähnst, gerade im Barock wird im Wiederholungsteil ja oft so stark verziert, dass man die ursprüngliche Linie kaum noch erkennt;
In der Regel wurden viele dieser Verzierungen improvisiert, allerdings nach gewissen Regeln der Verzierungskunst, die die Musiker zu beherrschen hatten. Diese Gewohnheit des "Figurieren" und "Ausschmücken" von ansonsten ausnotierten Stimmen verliert sich sogar erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Hector Berlioz musste beim Dirigieren eigener Werke noch gelegentlich den Orchestermusikern dezidiert verbieten, die Stimmen mit derartigen Verzierungen anzureichern.
In Bezug auf die Barockmusik muss man es gelegentlich sogar eher dann als "falsch" bezeichnen, wenn jemand eine schlichte Stimme, die ohne Verzierungen notiert wurde, einfach
genau so spielt wie notiert. Gleiches gilt auch für viele Folk-Stücke oder für Klezmer.