GeiGit
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Wie mich der Verlust meiner linken Ringfingerkuppe als Musiker herausgefordert hat
Ich hatte diesen Bericht schon vor über einem Jahr begonnen und war mir zwischendurch immer wieder unsicher ob es überhaupt was bringt ihn zu schreiben. Schließlich wollen wir uns ja hier im Musiker-Board positiv gegenseitig helfen und weiterbringen und da ist so ein "Unfallbericht" doch eigentlich unangebracht! Oder?
Eigentlich ja - Auf der anderen Seite macht ein Unfall einem auch nochmal ganz deutlich bewusst, dass es ein Privileg ist ein, oder sogar mehrere Instrumente spielen zu dürfen und zu können!
Es dreht sich hier ganz oft um die perfekte Ausrüstung, um Lernpraktiken, Möglichkeiten als Musiker besser zu werden - und die eigene Gesundheit ist dabei einfach eine Grundvoraussetzung von der man ausgeht, die man ganz unbewusst voraussetzt. - Aber das ist sie nicht!
Und es braucht wirklich nicht viel um genau in diesem Bereich einen Dämpfer, oder sogar ein Aus für eines der schönsten Hobbies zu bekommen!
Mir ist das passiert und es war Gott sei Dank nur ein Dämpfer und kein generelles Aus.
Aber lest selbst:
25. Oktober 2018 - Der Arbeitsunfall
...ein Moment der Unachtsamkeit, dann der Schlag auf die Finger... ich riss sofort meine Hand weg, schaute kurz auf die rote Fingerkuppe, sah, dass da ein Stück fehlte und steckte meinen linken Ringfinger reflexartig in den Mund und saugte. So, wie man das eben macht.
Mein Kollege fragte, bist du verletzt?
Ja, ich war verletzt und sofort schossen die Gedanken durch den Kopf, dass ich so nicht mehr Geige und Gitarre spielen kann.
Somit war der Verlust von drei Milimetern der linken Ringfingerkuppe für mich schon erschütternd!
Auf dem Weg ins Krankenhaus schrieb ich im Rettungswagen einhändig mit meiner Frau per WhatsApp. Sie hatte gleich einige Freunde und Wegbegleiter aus unserer Gemeinde informiert und die beteten für mich, meine Situation, die Verletzung und für Heilung.
Ich kam dort an, wurde sofort in die Ambulanz gebracht, der Finger wurde begutachtet und auch geschaut, ob der mitgenommene und gekühlte abgetrennte Hautfetzen, den mein Kollege aus dem oberen Anschlag der Presse gesammelt hatte, wieder angenäht werden könnte.
Das ging nicht, dafür war es zu wenig.
Trotzdem fehlte die Haut, der Knochenkanal war offen, aber der Knochen war nicht verletzt. Auch der Fingernagel war auf wundervolle Weise nahezu vollständig und nicht mal gebrochen!
Hautverschiebung per "V-Y-Schnitt"
Die Ärzte berieten die passende OP-Methode und man entschied sich für einen "V-Y-Schnitt". Mir wurde erklärt, dass man die Haut meines ersten Fingerglieds mit einem V-Schnitt lösen und dann dehnen und über die Fingerkuppe hochziehen und dort wieder vernähen wollte.
der untere Teil, bei dem die Haut dann fehlt, wird dann etwas zusammengezogen und als "Y" wieder vernäht.
Die Methode klang gut, ich bat sie um Sorgfalt, da ich Musiker bin und meine Fingerkuppe später wieder zum Greifen der Geigen- und Gitarrensaiten brauchen würde.
Dann ging es schnell: Ich bekam eine örtliche Betäubung. Dann kam die kleine Operation wie angekündigt. Die Fingerkuppe wurde durch den V-Schnitt gelöst, gedehnt und versetzt wieder angenäht. Ich betete in der ganzen Zeit "Herr, schenk Gelingen" und hoffte, dass alles gut geht!
Nach etwa 20 Minuten war alles vernäht und der Arzt zeigte mir das Ergebnis. Es hatte bisschen was von Frankenstein die eigene Fingerkuppe so vernäht zu sehen, aber zumindest war nun wieder überall Haut und die Naht sah gut aus.
Der Finger wurde verbunden und ich durfte mit meiner Frau nach Hause fahren. Als Abends dann die Betäubung nachlies schlugen die Schmerzen ziemlich erbarmungslos zu - trotz Schmerzmittel.
Ich musste trotzdem einiges regeln. Ich musste bei dem Musical-Projekt meiner alten Gemeinde absagen und auch in unserer Gemeinde einige meiner nächsten Dienste umorganisieren.
...und immer wieder ging mir der Moment durch den Kopf. Immer wieder überlegte ich warum ich die Gefahrenstelle am oberen Teil der Presse nicht gesehen hatte als wir bei der Wartung nach der Lekage suchten.
Ich hatte ja noch Glück, dass ich den Mittelfinger noch rausbekommen habe, oder dass er zumindest nur blau, aber nicht gequetscht war, also noch irgendwie rausgekommen sein muss. Es ging alles so schnell...
Kontrolle
Nach zwei Tagen wurde die Wunde im Krankenhaus kontrolliert. Die versetzte Haut war ziemlich blass und so wurde mir ASS100 zur besseren Durchblutung verschrieben. Zusätzlich hielt ich meine Hand auch nur noch so hoch wie es eben sein musste damit es nicht zu sehr schmerzte und pulsierte.
Bei der nächsten Kontrolle war die Haut dann Gott sei Dank schon deutlich besser durchblutet!
Im meiner Gemeinde wurde viel dafür gebetet, dass ich wieder vollständig geheilt werde und man sah von Kontrolle zu Kontrolle, dass die Wunde sehr gut verheilte!
Auch die Ärzte waren erstaunt wie schnell und gut das besser wurde!
Für das Musical-Projekt hatten sie einen Ersatz-Gitarrist gefunden und bei unseren Auftritten unterstützten mich jedes Mal andere Gitarristen unserer Gemeinde und ich war eine Zeit lang einfach "nur Sänger" - eine völlig neue und ungewohnte Aufgabe für mich, aber auch da hatte ich Freude dran und konnte die Zeit der Heilung gut überbrücken.
Nach drei Wochen konnte ich wieder Arbeiten gehen und mir wurden dann auch die Fäden gezogen.
Eine Woche später, also etwa einen Monat nach dem Unfall, konnte ich wieder ohne Verband unterwegs sein.
Ein wertvoller Tipp
Als ich einmal beim Metzger einkaufte, wurde ich gefragt was denn passiert sei und bekam den Tipp, dass ich den Finger in warmer Kamilosan-Lösung baden sollte. Das hätte bei ihr damals, nach ihrer Verletzung mit dem Fleischermesser, sehr gut geholfen.
Das klang sehr gut für mich, also besorgte ich mir Kamilosan in der Apotheke und machte Abends ein Fingerbad.
Als ich nach 10 Minuten den Finger wieder aus dem Schnapsglas hob, war die oberste Hautschicht stark aufgequollen und es sah echt schauderbar aus! Als ich dann aber die Haut vorsichtig abkratzte, kam darunter schöne, neue, rosige Haut zum Vorschein und nach kurzer Zeit sah der Finger schon wieder richtig gut aus!
Ich machte also regelmäßig diese Fingerbäder und nach einiger Zeit löste sich auch die dickste Kruste an der Fingerspitze und es kam darunter noch ein Faden hervor.
Ich ließ ihn im Krankenhaus ziehen und nach zwei Tagen war auch diese Wunde dann zugewachsen.
Verheilt, aber empfindlich
Der Finger war nun vollständig verheilt, komplett verwachsen, aber noch ziemlich empfindlich, obwohl das Gefühl im transplantierten Bereich noch nicht wirklich vorhanden war.
Beim Arbeiten machte ich deshalb tagsüber ein Pflaster zum Schutz drüber und merkte, wie die Fingerkuppe mit der Zeit immer mehr Berührung und Druck aushielt. Vorallem mit Pflaster.
Kann ich wieder spielen?
Weihnachten stand vor der Tür und alle hofften, dass ich an Heilig Abend wieder Geige spielen könnte.
Also versuchte ich es eine Woche vorher und spielte an einem Sonntag mit Pflaster wieder zwei Lieder auf der Geige.
Wenn ich vorsichtig war, ging das und ich war Jesus total dankbar, dass ich wieder spielen konnte!
In dem Moment, als ich die Töne formen konnte, meine Geige wieder erklang und ich meinen Finger wieder halbwegs einsetzen konnte, merkte ich was mir die ganze Zeit gefehlt hatte! Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Freude und Glück!!!
Einige Tage später versuchte ich mit einem kleinen, runden Pflaster nur die Fingerkuppe zu schützen und befestigte es mit einem weiteren Pflaster an der Fingerspitze. Dadurch war der Finger nicht so dick wie mit den bisherigen Pflastern und ich konnte vorsichtig wieder die Gitarrensaiten greifen und sanft herunterdrücken.
Zuerst ging es auf der E-Gitarre und einige Tage später dann auch auf meiner A-Gitarre.
Nicht jeder Akkord ging, aber es entwickelten sich ganz schnell andere Greifweisen für A- und D-Dur und ich konnte tatsächlich wieder vorsichtig spielen!
Was für ein ein Glücksgefühl das war! Echt unbeschreiblich!
Mein Finger war wirklich schön verheilt! Die Narbe war dünn, sauber umlaufend und die Haut war auf beiden Seiten auf gleicher Höhe. Nur bei genauem Hinsehen erkennt man die Narbe und die etwas kürzere und etwas abgeflachte Fingerkuppe.
Nach 4 Monaten
Zwischenstand - Der Unfall ist nun vier Monate her. Der Finger fühlt sich halbwegs normal an und es ist schon wieder etwas mehr Gefühl zurückgekehrt. Trotzdem bleibt leichte Taubheit und der Tastsinn ist stark reduziert. Da brauche ich wohl noch einige Zeit Geduld, bis da wieder alle Nervenbahnen zusammenwachsen, durchwachsen, oder wie auch immer.
Ich kann jedenfalls schon wieder ganz leicht benden, Vibrato, Lagenwechsel und noch manches mehr.
Was weiterhin schwierig ist, sind irgendwelche Slides mit Druck... Das tut noch zu stark weh.
Ich bin Jesus und den Ärzten jedenfalls sehr dankbar für die gute Versorgung und Wiederherstellung!
Aktueller Stand
Mittlerweile ist der Unfall fast 15 Monate her. Der Finger hat im Verletzungsbereich etwas mehr Gefühl zurück bekommen, ist aber vorallem im Kuppen-Bereich vom Tastsinn her weiterhin sehr indirekt, ungenau und halb taub. Ich kann also die exakte Position der Saite unter dem Finger nicht richtig spüren und werde mit dieser Einschränkung wahrscheinlich leben müssen. Ich kann im Vergleich zu den anderen Fingern etwa mit halber Kraft die Saite niederdrücken. Ab dann tut es weh. Es reicht jedoch um ziemlich sauber zu greifen und ich habe mich mittlerweile daran halbwegs gewöhnt. Ich spüre den Finger letzten Endes bei jedem Griff, setze ihn aber nicht mehr vorsichtig, sondern "relativ normal" auf. Somit ist das Spielen auch mit (eingeschränktem) Bending, Lagenwechseln und etwas ausgeprägterem Solospiel wieder möglich. A- und D-Dur greife ich weiterhin anders als früher. ich habe mich dran gewöhnt und benötige auf diese Weise etwas weniger Druck was die Sache entspannt und auch das Verstimmen durch zu großen Druck stark vermindert.
Bilder
Ich habe eine ganze Weile überlegt, was ich hier im Thread an Fotos zeigen kann (und darf) und wie ich das machen soll, damit jeder Leser mit etwas schwächeren Nerven die Chance hat nur das zu sehen, was er auch verkraftet und sehen will.
Ich habe mich schließlich dazu entschlossen die Bilder mit abgetrennter Spitze und Blut, sowie die Bilder mit der genähten Wunde und den Fortschritt der Heilung in eine Passwort geschützte PDF-Datei zu stellen, damit jeder sich im klaren ist, was ihn erwartet und er die Datei ganz bewusst öffnen muß. Also: Für alle unerschrockenen, die sie sehen wollen: Ihr kommt nur weiter wenn ihr IchWillSieSehen eingebt.
An alle mit etwas schwächeren Nerven und gutem Vorstellungsvermögen von Schmerzen: Lasst es! Es tut weh beim Anschauen! Schaut euch nur die Bilder des ausgeheilten Fingers an, das reicht um sich vorstellen zu können was passiert ist!
Gab mir die Verletzung einen Dämpfer?
Ja, diese Frage kam schon oft und ich habe sie mir auch schon selbst gestellt.
Natürlich ärgert es mich im Nachhinein immer wieder, dass ich nicht gut genug aufgepasst und die Gefahrenstelle übersehen habe! Da schafft man es die Ausbildungs-, Gesellen-, Meister- und Techniker-Zeit als Schreiner an den Händen verletzungsfrei zu bleiben und verletzt sich dann auf so blöde Art und Weise im Elektronikbetrieb bei der Fehlersuche an einer Gehäusepresse! Aber nicht unten im Pressbereich, sondern oben an der Endanschlagsschraube der durchgehenden Kolbenstange des Druckluftzylinders!
Aber es hilft nichts alles hätte, wäre, wenn, immer wieder durchzugehen. Man kann sein Leben nur vorwärts leben und die Vergangenheit nicht mehr ändern.
Insgesamt ging es glimpflich ab und hätte noch viel schlimmer kommen können! Immerhin habe ich meinen Mittelfinger noch aus dem Quetschbereich rausreißen können! Das konnte ich anschließend sehr deutlich am blauen Nagelbett und dem Abdruck auf dem Nagel erkennen!
Fazit
Mir ist durch den Unfall nochmals ganz neu bewußt geworden ist, wie verletzlich wir sind und dass es genügend Gefahren im Alltag gibt, die uns im Ernstfall wirklich an Dingen hindern können.
Umso wichtiger ist es für mich geworden für was ich meine Gaben einsetze, was ich tue, wie ich mein Leben gestalte und ich bin sehr froh und dankbar, dass es nur eine relativ kurze Wüstenzeit war in der ich Gott nicht mir meinen Instrumenten, sondern nur mit meiner Stimme loben konnte.
Ich bin sozusagen mit Narben davon gekommen und darf wieder weiter machen!
Umso bewusster ist es mir geworden, welch Privileg es ist, dass ich Musik zu Gottes Ehre und meiner Freude in unserer Gemeinde machen darf!
Und ich mache sie nun noch bewusster und dankbarer!
...und natürlich passe ich nun noch besser auf!
- Eigenschaft
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