LoboMix
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Wieder so viel, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll ...
@Strato Incendus, aus meinen Erfahrungen als Profimusiker kann ich kaum eine deiner Annahmen bestätigen. Ich komme vom Studium her zwar aus der "Klassik", bin musikalisch aber sehr breit gefächert und habe über die Zusammenarbeit mit verschiedenen Kollegen, die ihrerseits in verschiedenen Genres tätig sind, auch Berührungen und Erfahrungen im Pop-, Rock- und Jazzbereich. Ein Schwerpunkt meiner Tätigkeit ist im übrigen die freie Improvisation.
Alle professionelle Kollegen, mit denen ich bisher zu tun und mit denen ich bisher zusammen musiziert habe waren bzw. sind ausgesprochen gewissenhafte Musiker. Da macht es keinen Unterschied, ob Klassik, Jazz, Rock oder Pop. Dass bei "Klassikern", speziell Orchestermusikern, die gewissenhafte Ausführung des vorgelegten Materials im Vordergrund steht, hat mit der Aufgabe zu tun, ein bereits in (allerdings je nach Epoche mehr oder weniger) jedem Detail fertiges Werk mit größtmöglicher Präzision zur Aufführung zu bringen. Ein Orchester ist im übrigen keine auch nur im Ansatz demokratische Einrichtung, es ist der Dirigent, der die Interpretation vorgibt. In einem geringen Umfang kann und wird jeder in musikalischer Hinsicht zwar auch seine Persönlichkeit einbringen, z.B. bei einem Solo, aber das ist nicht der Schwerpunkt der Tätigkeit.
Diese Entwicklung, sich extrem strikt an den Notentext zu halten ist aber noch vergleichsweise jung. Bis in die Epoche der Klassik hinein waren die Musiker es gewohnt - und es wurde auch von ihnen entsprechendes Können erwartet -, ihre Stimmen zumindest in tragenden melodischen Abschnitten in improvisierender Weise auszuschmücken und zu figurieren. Hector Berlioz, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts als einer der ersten Dirigenten im heutigen Sinne tätig war (zusammen mit F.M. Bartholdy) schreibt in seinen Memoiren, dass er es den Musikern regelrecht austreiben und verbieten musste, die Stimmen frei zu umspielen.
"Klassiker", die als Spezialisten vorwiegend oder ausschließlich Musik bis zum Barock interpretieren, figurieren heutzutage selbstverständlich wieder im Sinne dieser alten Tradition.
Eine weitere Gruppe, die man zu den "Klassikern" rechnen darf, sind die Kirchenmusiker, die heute praktisch als einzige aus diesem Bereich den Schwerpunkt Improvisation im Studium haben (z.B. für Choralvorspiele). Nicht jeder erreicht darin die Perfektion eines Wolfgang Seifen (bitte selber googeln), aber es gibt unter den Kirchenmusikern vergleichsweise viele, die auf einem sehr hohen Niveau als improvisierende Musiker unterwegs sind und die dementsprechend höchst kreativ mit dem musikalischen Material umgehen. Die meisten Kontakte, die ich als (frei) improvisierender Musiker habe sind denn auch Kontakte zu Kirchenmusikern.
Im Jazz ist Improvisation und dementsprechende musikalische Kreativität selbstredend ein, wenn nicht der fundamentale Bestandteil des ganzen Genres. Dennoch führt dieser freiere Umgang mit dem Material keineswegs zu irgendeiner laxeren Haltung oder gar zu etwas ähnlichem wie Schlampigkeit. Die Jazzer, die ich persönlich kenne, sind zwar meist etwas entspannter drauf als die meisten Klassik-Kollegen, die ich kenne, aber in Sachen Präzision und Perfektion im Zusammenspiel sind die geradezu vorbildlich. Man höre sich nur mal die WDR-Big-Band an diesbezüglich.
Was die Aussage angeht, dass "die Genauigkeit des Zusammenspiels umso größer sein" muss, je größer das Ensemble ist, stimmt so nicht, jedenfalls nicht, was die Herausforderung zur Genauigkeit betrifft. Wenn Stimmen chorisch besetzt sind, wie z.B. die Streicher in einem Sinfonieorchester, dann reguliert alleine die Masse einiges, so dass es in dieser Gruppe jedem Einzelnen leichter fällt, mit sehr großer Präzision zu spielen. Es ist sozusagen wie in einem Schwarm. Einen nicht unbedeutenden Anteil haben daran die jeweiligen Stimmführer.
Es gibt ein Werk, dass einen guten Vergleich möglich macht: "Verklärte Nacht" op. 4 von Arnold Schoenberg. Es gibt davon sowohl die ursprüngliche Fassung für Streichsextett, als auch seine eigene Bearbeitung für Streicher-Kammerorchester. Nach Aussage eines Dirigenten, der beide Fassungen oft dirigiert hat (ja, auch die Sextett-Fassung wird meistens dirigiert ob der extremen Komplexität des Satzes) ist die Sextett-Fassung erheblich heikler als die Orchester-Fassung. Eben, weil die Masse vieles auf eine bestimmte Weise stabilisiert, was in der Sextett-Fassung, wo jede Stimme nur einmal besetzt ist, deutlich ´zerbrechlicher´ macht.
Hier Beispiele beider Fassungen:
Was alleine die Präzision angeht, war ich selber sehr beeindruckt und fasziniert, als ich zum ersten mal bei einem Pop-Projekt mitgespielt habe, alles mit einem tollen Timing und auf den Punkt zusammen gespielt, und natürlich mit faszinierendem Drive.
Was Wunder, wenn man sich mal mit dem Alltag von Pop-Musikern beschäftigt, die bei Studio-Produktionen mitwirken. Da findet man hervorragende Könner, sehr gewissenhaft und top zuverlässig. Wären sie nicht so drauf, würden sie dort hochkant raus fliegen, schließlich können solche Produktionen ganz schön ins Geld gehen.
Wie dem auch sei, irgendwie finde ich, dass deine interessanten Fragestellungen an vielen Stellen umgehend konterkariert werden von einem entlarvenden Mangel eines Blickes in die Tiefe. So bleiben die Gedanken doch schließlich immer wieder an der Oberfläche und der Erkenntnisgewinn, der möglich gewesen wäre, bleibt enttäuschenderweise aus. Viele eloquente Worte und Gedanken, aber ohne Echo.
Daher entsteht der Vorwurf des "Klischees". Sicher steckt in jedem Klischee ein Körnchen Wahrheit, irgendwie ist es ja mal entstanden, dennoch sind Klischees wenig hilfreich, um in einer Diskussion voran zu kommen. Die Welt ist dann doch faktisch immer wieder viel differenzierter, als man es sich eingestehen möchte.
Was O. Messiaen betrifft, so ist es unwichtig, sich mit seinem tief-religiösen Hintergrund beschäftigen zu müssen, um von seiner Musik gepackt zu werden. Für das Verständnis seines Schaffens ist es gewiss wichtig, um fasziniert zu werden nicht unbedingt.
Hier zwei Beispiele:
Im übrigen war Messiaen ein sehr, sehr strukturierter Komponist, wie man hier nachlesen kann: https://www.sr.de/sr/sr2/sendungen_...lensteine_neue_musik_olivier_messiaen100.html
Für mein Empfinden und verstehen hat er es vermocht, in vielen seiner Werke eine geniale Synthese aus strenger Struktur und höchster klanglicher, geradezu exaltierter Expressivität zu schaffen.
Um Werke wie diese (aber auch z.B. die Kompositionen von L. Bernstein um ein sehr gegensätzliches Beispiel zu bringen) kongenial interpretieren zu können, dürfen die ausführenden Orchestermusiker auf keine Fall im erstarrten Sinne konservativ sein, sondern müssen einen ebenso offenen geistigen Horizont und große Neugierde, ja, fast möchte ich sagen, Abenteuerlust, haben, wie du sie bei Jazzmusikern für selbstverständlich zu halten scheinst. Wobei es auch unter diesen Vertreter mit sehr starrem Geist und geschlossenem Horizont gibt.
Es ist alles nicht so einfach, und so bequem Schubladen sein mögen, es passt doch nicht alles hinein, was man hinein stecken möchte. Das wahre Leben wehrt sich doch allzu oft und will nicht in Schubladen eingesperrt sein.
@Strato Incendus, aus meinen Erfahrungen als Profimusiker kann ich kaum eine deiner Annahmen bestätigen. Ich komme vom Studium her zwar aus der "Klassik", bin musikalisch aber sehr breit gefächert und habe über die Zusammenarbeit mit verschiedenen Kollegen, die ihrerseits in verschiedenen Genres tätig sind, auch Berührungen und Erfahrungen im Pop-, Rock- und Jazzbereich. Ein Schwerpunkt meiner Tätigkeit ist im übrigen die freie Improvisation.
Alle professionelle Kollegen, mit denen ich bisher zu tun und mit denen ich bisher zusammen musiziert habe waren bzw. sind ausgesprochen gewissenhafte Musiker. Da macht es keinen Unterschied, ob Klassik, Jazz, Rock oder Pop. Dass bei "Klassikern", speziell Orchestermusikern, die gewissenhafte Ausführung des vorgelegten Materials im Vordergrund steht, hat mit der Aufgabe zu tun, ein bereits in (allerdings je nach Epoche mehr oder weniger) jedem Detail fertiges Werk mit größtmöglicher Präzision zur Aufführung zu bringen. Ein Orchester ist im übrigen keine auch nur im Ansatz demokratische Einrichtung, es ist der Dirigent, der die Interpretation vorgibt. In einem geringen Umfang kann und wird jeder in musikalischer Hinsicht zwar auch seine Persönlichkeit einbringen, z.B. bei einem Solo, aber das ist nicht der Schwerpunkt der Tätigkeit.
Diese Entwicklung, sich extrem strikt an den Notentext zu halten ist aber noch vergleichsweise jung. Bis in die Epoche der Klassik hinein waren die Musiker es gewohnt - und es wurde auch von ihnen entsprechendes Können erwartet -, ihre Stimmen zumindest in tragenden melodischen Abschnitten in improvisierender Weise auszuschmücken und zu figurieren. Hector Berlioz, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts als einer der ersten Dirigenten im heutigen Sinne tätig war (zusammen mit F.M. Bartholdy) schreibt in seinen Memoiren, dass er es den Musikern regelrecht austreiben und verbieten musste, die Stimmen frei zu umspielen.
"Klassiker", die als Spezialisten vorwiegend oder ausschließlich Musik bis zum Barock interpretieren, figurieren heutzutage selbstverständlich wieder im Sinne dieser alten Tradition.
Eine weitere Gruppe, die man zu den "Klassikern" rechnen darf, sind die Kirchenmusiker, die heute praktisch als einzige aus diesem Bereich den Schwerpunkt Improvisation im Studium haben (z.B. für Choralvorspiele). Nicht jeder erreicht darin die Perfektion eines Wolfgang Seifen (bitte selber googeln), aber es gibt unter den Kirchenmusikern vergleichsweise viele, die auf einem sehr hohen Niveau als improvisierende Musiker unterwegs sind und die dementsprechend höchst kreativ mit dem musikalischen Material umgehen. Die meisten Kontakte, die ich als (frei) improvisierender Musiker habe sind denn auch Kontakte zu Kirchenmusikern.
Im Jazz ist Improvisation und dementsprechende musikalische Kreativität selbstredend ein, wenn nicht der fundamentale Bestandteil des ganzen Genres. Dennoch führt dieser freiere Umgang mit dem Material keineswegs zu irgendeiner laxeren Haltung oder gar zu etwas ähnlichem wie Schlampigkeit. Die Jazzer, die ich persönlich kenne, sind zwar meist etwas entspannter drauf als die meisten Klassik-Kollegen, die ich kenne, aber in Sachen Präzision und Perfektion im Zusammenspiel sind die geradezu vorbildlich. Man höre sich nur mal die WDR-Big-Band an diesbezüglich.
Was die Aussage angeht, dass "die Genauigkeit des Zusammenspiels umso größer sein" muss, je größer das Ensemble ist, stimmt so nicht, jedenfalls nicht, was die Herausforderung zur Genauigkeit betrifft. Wenn Stimmen chorisch besetzt sind, wie z.B. die Streicher in einem Sinfonieorchester, dann reguliert alleine die Masse einiges, so dass es in dieser Gruppe jedem Einzelnen leichter fällt, mit sehr großer Präzision zu spielen. Es ist sozusagen wie in einem Schwarm. Einen nicht unbedeutenden Anteil haben daran die jeweiligen Stimmführer.
Es gibt ein Werk, dass einen guten Vergleich möglich macht: "Verklärte Nacht" op. 4 von Arnold Schoenberg. Es gibt davon sowohl die ursprüngliche Fassung für Streichsextett, als auch seine eigene Bearbeitung für Streicher-Kammerorchester. Nach Aussage eines Dirigenten, der beide Fassungen oft dirigiert hat (ja, auch die Sextett-Fassung wird meistens dirigiert ob der extremen Komplexität des Satzes) ist die Sextett-Fassung erheblich heikler als die Orchester-Fassung. Eben, weil die Masse vieles auf eine bestimmte Weise stabilisiert, was in der Sextett-Fassung, wo jede Stimme nur einmal besetzt ist, deutlich ´zerbrechlicher´ macht.
Hier Beispiele beider Fassungen:
Was alleine die Präzision angeht, war ich selber sehr beeindruckt und fasziniert, als ich zum ersten mal bei einem Pop-Projekt mitgespielt habe, alles mit einem tollen Timing und auf den Punkt zusammen gespielt, und natürlich mit faszinierendem Drive.
Was Wunder, wenn man sich mal mit dem Alltag von Pop-Musikern beschäftigt, die bei Studio-Produktionen mitwirken. Da findet man hervorragende Könner, sehr gewissenhaft und top zuverlässig. Wären sie nicht so drauf, würden sie dort hochkant raus fliegen, schließlich können solche Produktionen ganz schön ins Geld gehen.
Wie dem auch sei, irgendwie finde ich, dass deine interessanten Fragestellungen an vielen Stellen umgehend konterkariert werden von einem entlarvenden Mangel eines Blickes in die Tiefe. So bleiben die Gedanken doch schließlich immer wieder an der Oberfläche und der Erkenntnisgewinn, der möglich gewesen wäre, bleibt enttäuschenderweise aus. Viele eloquente Worte und Gedanken, aber ohne Echo.
Daher entsteht der Vorwurf des "Klischees". Sicher steckt in jedem Klischee ein Körnchen Wahrheit, irgendwie ist es ja mal entstanden, dennoch sind Klischees wenig hilfreich, um in einer Diskussion voran zu kommen. Die Welt ist dann doch faktisch immer wieder viel differenzierter, als man es sich eingestehen möchte.
Was O. Messiaen betrifft, so ist es unwichtig, sich mit seinem tief-religiösen Hintergrund beschäftigen zu müssen, um von seiner Musik gepackt zu werden. Für das Verständnis seines Schaffens ist es gewiss wichtig, um fasziniert zu werden nicht unbedingt.
Hier zwei Beispiele:
Im übrigen war Messiaen ein sehr, sehr strukturierter Komponist, wie man hier nachlesen kann: https://www.sr.de/sr/sr2/sendungen_...lensteine_neue_musik_olivier_messiaen100.html
Für mein Empfinden und verstehen hat er es vermocht, in vielen seiner Werke eine geniale Synthese aus strenger Struktur und höchster klanglicher, geradezu exaltierter Expressivität zu schaffen.
Um Werke wie diese (aber auch z.B. die Kompositionen von L. Bernstein um ein sehr gegensätzliches Beispiel zu bringen) kongenial interpretieren zu können, dürfen die ausführenden Orchestermusiker auf keine Fall im erstarrten Sinne konservativ sein, sondern müssen einen ebenso offenen geistigen Horizont und große Neugierde, ja, fast möchte ich sagen, Abenteuerlust, haben, wie du sie bei Jazzmusikern für selbstverständlich zu halten scheinst. Wobei es auch unter diesen Vertreter mit sehr starrem Geist und geschlossenem Horizont gibt.
Es ist alles nicht so einfach, und so bequem Schubladen sein mögen, es passt doch nicht alles hinein, was man hinein stecken möchte. Das wahre Leben wehrt sich doch allzu oft und will nicht in Schubladen eingesperrt sein.