Dylan Street Legal
(vorab: ich höre Dylan extrem selektiv, gibt ungefähr 5 bis 7 CDs, die ich habe und liebe und die mich lange schon begleiten.)
((Ziel: ich höre die CD und schreibe zu jedem song was in Bezug auf die Idee, so wie ich sie versteh, solange der song läuft.))
(((Alles, was ich wahrnehme und schreibe, ist subjektiv.)))
1. changing of the guards
Treibende Musik, Chor, Einzelstimme, Rock.
Thema: Was man aus Liebe bereit ist zu tun.
Idee: Ein capain wird vor die Situation gestellt, aus Liebe zu handeln: und zwar den Ersatz der guards zu fordern, weil diese seiner Geliebten etwas angetan, sie gedemütigt, möglicherweise mißbraucht haben.
Eine Geschichte wird chronologisch geschildert, aus der Sicht eines Beobachters, der innerhalb dieser Szenerie wandelt und schildert, was er sieht. Das sind neben der Geschichte und den Protagonisten atmosphärische Bilder, die sich zu einem Sittengemälde ausweiten.
großartigste Zeile: she's begging to know what measures he now will be taking.
He's pulling her down and she's clutching on to his long golden locks.
2. new pony
Country & Western, reduziert, ungeschliffen, nach vorne gehender groove, Chor.
Thema: Liebe, Leidenschaft, Sex und der Mann.
Idee: Chronologie der Pferde, die ein Mann besitzt als Metapher für Frauen.
Verflossene Liebe muss überwunden werden, sometimes I wonder what´s going with me sex, Distanz schaffen. Es geht darum, wozu ein Mann eine Frau braucht und: es verschwimmen immer die Grenzen von Sex, Leidenschaft und Liebe. Nach vorne treibender Chor mit der Frage: How much, how much, how much longer?
härteste Zeile: She broke her leg and needed shooting
I swear it hurt me more than it could ever have hurted her
coolste Zeile: Oh, baby, that God you been prayin' to
Gonna give ya back what you're wishin' on someone else
3. no time to think
langsam, aber mächtig, Walzer wechselt mit 6/8-tel Blues, Anklage, soul- und gospel-Anklänge, Chor
Thema: Jeder will was von einem und man selbst findet keine Zeit mehr
Idee: Eine andauernde, anklagende Schilderung aller Umstände, die einen vom wirklich wichtigen abhalten als Mix zwischen persönlichem, gesellschaftlichem, Besonderen und Allgemeinen.
Die sich über 18 (!) Strophen hinziehende Aufzählung von Leuten, die einem auf die Nerven gehen und einen jagen und ausnehmen plus ideologische Hauptsätze oder Schlagworte, die einen fordern und nichts mit dem Leben zu tun haben, was einem wichtig ist, wirken in ihrer schieren Anzahl überwältigend, der einzelne versinkt, findet vor Ablenkung nicht zu sich selbst. Keine Wertung, keine Lösung.
Als Refrain, vom Chor untermalt, auf den jede zweite Strophe hinausläuft: and there´s no time to think.
Zeile, die mich nächtelang nicht schlafen ließ: socialism - hypnotism, patriotism – materialism.
Härteste Zeile: I'd have paid the traitor and killed him much later
But that's just the way that I am
Zeile für die Ewigkeit: But the magician is quicker and his game
Is much thicker than blood and blacker than ink
4. baby stop crying
Ans Herz gehende balladenartige Musik, Chor
Thema: Was Liebe mit einem machen kann - Trauer und Verzweiflung durch Liebe
Idee: Freund (nicht Liebhaber) hört seiner Freundin zu, die durch Liebeskummer in tiefer Trauer und Verzweiflung ist. Durch ihn erfahren wir die Ambivalenz zwischen Helfen-Wollen, Wut auf den, der ihr dies antat, dem aufkommenden Bewußtsein, dass eine Grenze da ist, denn es sind ihre Gefühle und nicht die eigenen, um die es geht und die zählen und: die eigene Unfähigkeit, ihre Tränen (länger) zu ertragen.
Der Chor trägt das Stück: Baby, please stop crying
gelogendste und gleichzeitig wahrste Zeile des Refrains ever: You know, I know, the sun will always shine
Zweitzeile: Well I don´t have to be no doctor baby to know that you´re madly in love
5. is your love in vain?
langsame Musik, breit aufgestellt, tragende Orgel, Chor, fließend
Thema: Liebe ist höchstes Risiko - Willst Du mich wirklich lieben?
Idee: Das Lyrische Ich antwortet auf das Angebot einer Frau, die Nacht mit ihm zu verbringen.
Es sind die Fragen, die offen bleiben, die den song tragen: Denn es sind Fragen, die jede/r kennt – als Liebende/r oder Geliebte/r: Willst Du mich wirklich lieben? Weißt Du was Liebe ist und mit mir macht? Mit Dir macht und machen kann? Bist Du dazu wirklich bereit? Kann ich auf Dich zählen?
Das Lyrische Ich macht das Gegenangebot: Du kannst die Nacht haben und den Morgen dazu.
Zeilen, die mich umhauen: Do you understand my pain? Are you willing to risk it all or is your love in vain?
6. Senior
Tex-Mex-Ballade, reduzierte Musik, Chor
Thema: Trauma und Wiederaufbruch ins Leben
Idee: Wir erfahren von der Tragik eines Lebens dadurch, dass die Person, die sie erlebt hat, einem Fremden, dem angesprochenen Senior, erzählt. Wir sind also Beobachter und verfolgen die in Einzelszenen und Erinnerungen bestehenden Fetzen der Vergangenheit. Auf der Gegenwartsebene faßt die Hauptfigur im Laufe des songs den Entschluss zum Aufbruch. Auch hier ist ein treibendes Moment die Fragen, die der Ich-Erzähler dem senior stellt: durch die Art der Fragen erkennen wir den derzeitigen Zustand des Leidenden und Wiedergenesenden.
großartigste Zeile: just give me one minute to pick myself up off the floor, I´m ready when you are Senior
7. true love tends to forget
Ballade, Beschwörung, Hoffnung, touch of Gospel & soul
Thema: Wahre Liebe heilt alle Wunden
Idee: Den allgemeingültig daherkommende Satz, dass Liebe alle Wunden heilt, erleben wir ambivalent: als Mantra eines um Erlösung ringenden Liebenden, als notwendigen Bestandteil der Liebe und als reale Erfahrung und möglicherweise als (unausgesprochene) Forderung der Geliebten – alles aus dem Munde einer Person und zum Teil als Dialogfetzen zu seiner Geliebten bzw. großen Liebe gesprochen, die mal in Mexiko und mal in Tibet ist und mal gesehen wird in the wilderness among the men … und wir als Zuhörer dürfen wählen und schwanken und einstimmen in den Chorus: true love, true love, true love – tends to forget
8. we better talk this over
midtempo, zum Teil ungradige Nummer zwischen Rock und soul
Thema: Das Ende einer Beziehung
Idee: Das ist grad kein guter Zeitpunkt für einen Streit … sagt der Mann mit hangover, der die Nacht, so ist zu vermuten, woanders verbrachte … und um eine Ruhepause bittet und im weiteren Fortgang feststellt, dass es das war … vermeidbar? Es gibt zumindest viele Hinweise seinerseits, wie es besser oder zumindest nicht mit dieser Endgültigkeit hätte enden müssen – aber ihre Sicht bleibt Außen vor …
hoffnungsvollste endzeitzeile: You don't have to yearn for love, you don't have to be alone,
Somewheres in this universe there's a place that you can call home
9. Where are you tonight? (Journey through the dark heat)
midtempo, soulfull, groove, treibend, beschwörend, Chor
Thema: Wo bist Du, der ich Dich so brauche?
Idee: Ein Mann schreibt einen Brief an die Frau, die er vermißt und erzählt dabei deren beider Geschichte – ob der Brief einen Empfänger hat, ob es eine Adresse gibt, ob er gelesen und beantwortet wird: wir wissen es nicht. Aber wir erfahren die Geschichte, die irgendwie dazu führt, dass der Ich-Erzähler durch die Hölle ging und am Ende erstaunt feststellt, dass er lebt, dass dies aber nicht reicht ...
Intro-Zeile: There's a long-distance train rolling through the rain
Tears on the letter I write
Mittendrin 1: The truth was obscure, too profound and too pure
To live it you had to explode
Mittendrin 2: I fought with my twin, that enemy within
Till both of us fell by the way
Endzeile: I can't believe it, I can't believe I'm alive
But without you it doesn't seem right
Oh, where are you tonight?
Eine Art Zwischenfazit:
Es ist die Idee zur Geschichte, die Dylan erzählt, die das Thema interessant macht – die Art und Weise ist der Hebel, der ab da den ganzen Kosmos der Protagonisten bewegt. Die Hörenden sind Beobachtende des Geschehens, keine direkt Angesprochenen; zuweilen bietet sich das „I“ als Identifikation an – aber darauf legt es Dylan, glaube ich, nicht an: es geht eher darum, eine Geschehen zu verfolgen und sich seinen eigenen Reim zu machen.
Es geht nicht um Botschaften – obgleich diese dargereicht werden in großen Krügen, die vollgefüllt sind … es geht darum, dass die Hörenden die dargereichten Kelche bis zur zuweilen bitteren Neige leeren – um ihre eigenen Lehren zu ziehen, eine Geschichte zu hören, die einen möglicherweise „streetwise“ macht. Und möglicherweise sieht man anderes am Grund der Kelche – je nachdem, was man gerade selbst erlebt oder erlebt hat.
Immer wieder wechselt Dylan die Zeitebenen, zwischen beiläufigend Schilderungen kommen plötzlich Sätze, die einen umhauen, chronologische Geschichten werden durchbrochen von atmosphärischen Bildern, die zuweilen wie die apokalyptischen auf einen zugallopiert kommen, dann wieder holt der Chor einen in Gefilde, die Vereinzelung aufheben, aber auch nur für Momente - und dann es geht weiter und weiter und weiter ...
Der Chor hat eine immens wichtige Rolle: Er ist auf einer Ebene angesiedelt, die weder der Ich-Erzähler noch ein Allwissender Erzähler ist, aber eine Kommentator, eine Gemeinschaft, ein Background – eine Zwischenebene, derer ich mich nullkommanull bediene …
Zudem: treibend, belebend, ausladend, zuweilen Wunden leckend – emotional großartig greifend.
Zudem: groove, groove, groove, so weit man sieht. Das Tempo kann langsam sein bis zum Umfallen – aber es groovt.
Zudem: musikalisch eher größeres Besteck: neben Chor tritt eine Orgel auf oder ein Klavier, drum ist durch percussion verstärkt, Mandoline / Violine ist an Bord, Leadgitarre, mal Bläser. Sehr effektvoll, selbst bei reduzierten songs.
Bin mir nicht sicher, ob die Idee eines songtextes die Geschichte und der Bezugsrahmen ist, in der das Thema dargeboten wird – aber das ist eine These, die ich sicher weiter verfolge.
Anmerkung: Ich kenne die songs von Dylan, die ich höre, so gut, dass ich sie mitsinge. Trotzdem ist es etwas ganz anderes, auf den Text zu achten, ihn zu lesen, ihn bewußt wahrzunehmen. Und mich zu fragen, wie dieser Text funktioniert: und dabei habe ich gerade mal an der Oberfläche der Oberfläche gekratzt.
Und: Ich merke, dass ich das nie gemacht habe, weil ich eine unbewußte Abneigung dagegen habe. Genau so, wie ich mir nie die Akkorde angeschaut habe von Led Zeppelin. Mich hat es Nullkommanull gedrängt, mir das anzuschauen oder sie nachzuspielen.
Meine Vermutung: Ich will mir die Ehrfurcht bewahren. Ich will gar nicht zu genau wissen, wie es gemacht ist. Ich will lieber immer wieder überwältigt sein.
Seltsam und vermutlich höchst magisch bzw. mythisch gedacht - irgendwie wie im Traum, wo man auf keinen Fall etwas genauer anschauen will, um seinen Reiz zu erhalten - oder seine Furcht.
ln anderen Belangen bin ich eher das Gegenteil: neugierig, wissbegierig, spielerisch erforschend, Dinge auseinandernehmend und wieder zusammensetzen.
Ich glaube, beim Texten bin ich beides. Aber meistens nicht zur gleichen Zeit.
x-Riff