Ich habe jetzt das Buch von
Friedrich Lips, Die Kunst des Bajanspiels durchgelesen. Meine Eindrücke sind ambivalent.
Mit dem Werk bekommt man ein Kompendium in die Hand. Man kriegt einen Überblick über das, was mit einem Akkordeon möglich ist. Welche Möglichkeiten gibt es, einen Ton zu erzeugen (Tastaturanschlag, Artikulation)? Welche Formen von Bellow-Shakes kommen vor? Welche Register soll man wann einlegen? Was ist bei der Dynamik zu beachten (z.B. Töne der unterschiedlichen Chöre fallen bei einem extremen Decresendo nacheinander aus.)? Wie arbeitet man in einem mehrstimmigen Werk die einzelnen Stimmen hörbar heraus? Wie hält man ein Akkord richtig? Wie sieht ein guter Fingersatz aus? Diese Fragen werden beantwortet und an vielen Stellen mit Notenbeispielen bekannterer und unbekannterer Komponisten unterstrichen. Es fällt hier auf, dass viele zeitgenössische Beispiele russischer Tonsetzer vorkommen. Die Frage ist, was die Notenbeispiele austragen.
Meine Schwierigkeit ist bestimmt, dass ich keinen Überblick habe, wie zum Beispiel die Artikulationsarten
klingen müssen. Alleine mit Notenbeispielen ist mir nicht geholfen. Ich brauche eine Klangvorstellung. Naturgemäß kann das Buch sie nicht liefern - weil es eben in einer Zeit geschrieben wurde, in der man weder eine CD beigelegt hat noch das Internet zur Verfügung hatte, wo man die richtige Interpretation der Notenbeispiele hätte nachhören können. Insofern bietet das Buch Hinweise, wo man suchen muss, wenn man etwas an seiner Technik vertiefen oder verbessern möchte, aber keine Anleitung für eine praktische Verbesserung des eigenen Spiels.
Gelegentlich wirkt Lips auch etwas autoritär. Er hat z.B. klare Vorstellungen, wie bestimmte Bachstücke gespielt werden
MÜSSEN. Punkt. Manchmal fragte ich mich, woher er seine Sicherheit nimmt, dass die kleine g-moll Fuge Bachs (BWV 578) definitiv legato und die c-Moll Fuge aus dem WTK1 (BWV 847) staccato zu interpretieren seien. Vielleicht macht ein Originalzitat deutlich, was ich meine: "Dasselbe kann über die Vortragsart staccato gesagt werden. Das Staccato wird in den Werken Bachs eher dicht und tief gespielt, etwa mit dem Empfinden, die Tasten bzw. Knöpfe der Klaviatur jeweils ganz niedergedrückt zu haben. Hier ist kein Platz für Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit" (Seite 181 mit Notenbeispiel des Themas aus BWV 847). Wahrscheinlich hat sich Lips mit solcher Kritik schon früher auseinander setzen müssen, zumindest bittet er im Nachwort den Leser darum, seine belehrende Art nachzusehen (Seite 249).
Etwas mehr hatte ich mir bei der Passage über die "Interpretation eines musikalischen Werkes" erwartet. Für Lips sind Wissen (z.B. über den Komponisten, sein Werk und seine Zeit) und Handwerk grundlegend. Er schreibt auch, dass ein Interpret sich ein Werk aneignen muss. Es kommt aber nicht vor, welcher
mentalen Techniken man sich bedienen kann, um die Interpretation eines Werkes
praktisch möglich zu machen. Vielleicht ist diese Frage eine Frage von heute und damals zurzeit, als das Buch geschrieben wurde, nicht von solcher Bedeutung, als dass man es niedergeschrieben hätte.
Mein FAZIT:
- Das Buch ist ein gutes Kompendium. Es gibt einen guten Überblick über Spieltechniken. Die Beschreibungen insbesondere der verschiedenen Bellowshakes finde ich gelungen.
- Ich interessiere mich viel mehr als das Buch für die Bedeutung mentaler Prozesse beim Spielen.
- Also muss ich ein weiteres Buch suchen - andere wie
@Wil_Riker vielleicht einen Lehrer, weil der natürlich manches demonstrieren kann.
P.S. Ich wäre interessiert zu erfahren, wie es anderen mit dem Buch geht. Soweit ich weiß, hast du das Buch nun ja auch,
@morino47...
- Ich interessiere mich viel mehr als das Buch für die Bedeutung mentaler Prozesse beim Spielen.
Was im Hirn vorgeht, wirkt sich auf jeden Fall aus. Bin ich traurig, spiele ich in der Regel langsamer. Stecke ich voller Energie, spiele ich schneller und artikulierter. Wer also sein Hirn in den Griff bekommt, bekommt ein Musikstück besser in Griff - eine gewisse Fingerfertigkeit natürlich vorausgesetzt. Dabei geht es nicht nur darum, die richtigen Tasten und Knöpfe zu drücken. Es geht darum, eigene musikalisch wirksame Vorstellungen und Bilder zu entwickeln und diese wirken zu lassen. Wenn ich mich für mentale Prozesse interessiere, dann nutze ich also ähnliche Ideen wie sie z.B. das autogene Training oder diverse von den Sportwissenschaften ausgearbeitete Übungsmethoden realisieren.
Zwei Bücher habe ich dazu gelesen. Einerseits Norbert Schindlegger, Werde dein Lehrer: Die Methode zum erfolgreichen Üben und Musizieren, 2015. Andererseits:
Gerhard Mantel, Einfach üben: 185 unübliche Überezepte für Instrumentalisten. Mainz: Schott, 2001. Das zweite Buch hat mich begeistert. Es ist gut gefüllt - theoretisch wie praktisch - , hat unglaublich interessante praktische Anregungen und hilft enorm weiter. Auch die mentale Dimension kommt nicht zu kurz, die Ergebnisse sportwissenschaftlicher Forschungen fließen mit ein, die doch manches stark relativieren, was mir früher mein Akkordeon-Lehrer beigebracht hat. Das Buch ist also was für den Kopf, fürs Herz und die Hand. Ich habe selten etwas für die Übepraxis so interessantes gelesen - kein Wunder, dass das der renommierte Schott-Verlag herausgebracht hat und dass das Buch über mehr als 15 Jahre nachgedruckt werden musste. Darum möchte ich es hier vorstellen. (Übrigens ich werde für diesen Beitrag nicht bezahlt...)
Der Autor ist Cellist und lehrt an der Musikhochschule Frankfurt. Dennoch sind seine Überezepte auch für Akkordionisten geeignet. Freilich muss man gewisse Bedingungen erfüllen. Erstens sollte man grundlegende technischen Fähigkeiten besitzen. Zweitens sollte man nicht nach dem Prinzip Hoffnung üben wollen, sondern nach dem Prinzip Problemlösen. Dabei stellt man folgende Fragen:
1. Was ist eigentlich konkret mein Problem?
2. Was genau steht der Lösung des Problems im Weg?
3. Verfüge ich über die Methoden, die Hindernisse auszuräumen?
4. Wenn nicht, wie komme ich an solche Methoden? (Seite 15).
Man braucht also eine gewisse Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und autodidaktische Fähigkeiten, die Anfänger wahrscheinlich in der Regel nicht haben. Ich muss wissen, was ich will. Ich muss wahrnehmen, was ich mache. Ich muss wissen, wie ich den Unterschied zwischen wollen und machen abbaue (Seite 18).
Bei Amazon lässt sich das
Inhaltsverzeichnis anschauen. Es ist unglaublich umfangreich: Teil A kümmert sich ums richtige Üben. Teil B thematisiert Bewegungen (des ganzen Körpers), Teil C die mentale Organisation, Teil D die Interpretation und dort die mentalen assoziativen Prozesse, mit denen ich mich zurzeit beschäftige. Ich kann unmöglich hier schreiben, was alles drin vorkommt, ich möchte aber meine Hallo-Wach-Momente bei der Lektüre beschreiben.
Im Teil A geht es u.a. um Fehler. Nach Rezept 43 sollen wir sie nicht als Pannen betrachten, sondern als wichtige Lern- und Spielinformationen akzeptieren und bewusst als Arbeitswerkzeug verwenden. So weit so gut. Das ist naheliegend, wenn man sich einige Zeit mit Musikmachen beschäftigt. Dass man nicht wiederholt falsch spielen soll, weil man sonst falschen Kram ins Hirn einprägt, ist auch klar (Rezept 45). Manchmal aber hat man ja irgendetwas fix gelernt, was man nach einigen Monaten oder Jahren für Murks hält oder für musikalischen Schwachsinn. Was dann? Dann soll man
ABSICHTLICH Fehler einbauen, rät der Autor. Unglaublich, und irgendwie genial. Wir machen eine bewusst gelernte Bewegung bewusst kaputt, denn wer bewusst etwas kaputt machen kann, kann auch bewusst eine schönere Interpretation schaffen (Rezept 47, Seite 58f).
In Teil B geht es um Bewegungen - nicht nur um Bewegungen der Finger, sondern um Bewegungen des ganzen Körpers. Dieser sportwissenschaftlich inspirierte Teil brachte alles ins Wanken, was mir alte Akkordeonlehrer eingetrichtert haben. Meine Akkordeonlehrer brachten mir immer bei, ich solle bei den Bewegungen sparsam sein, kleine Bewegungen, den Körper nicht mit zuviel Bewegungen überfrachten. Etc. pp. Vielleicht hat der ein oder andere auch dieses "preußisch"-musikalische Soldatenmusiktraining bekommen. Mantel grenzt sich massiv dagegen ab: "Jeder Bewegung ist eine genau entsprechende Empfindung zugeordnet. Das Raster dieser Empfindung, ihre Deutlichkeit, zeigt jedoch ganz erhebliche Schwankungen. Eine Bewegung, bei der ganze Teile des Körpers unbewegt, also blockiert und damit 'desensibilisiert' sind, erzeugt im Hirn ein wesentlich undeutlicheres Bild meines derzeitigen Körperzustandes als eine Bewegung, bei der alle Teile des Körpers ein bisschen bewegt sind..... Je mehr Gelenke in die Bewegung einbezogen sind, desto genauer ist das Resultat beim Instrumentenspiel" (Seite 88). Die folgenden Rezepte bringen mich dazu, etwas mehr Bewegung ins Akkordeonspiel zu bringen. Wer starr sitzt, spielt starr. Wer Leute bewegen will, bewegt sich selber.
In Teil C mischt der Kopf mit. Auch der kann Sachen machen, die auf den ersten Blick nicht so einsichtig sind. Manche von uns stellen sich Tasten einfach vor, wenn sie die Tastatur nicht sehen können. Manche schreiben sich Fingersätze drunter und strukturieren das musikalische Geschehen auch damit - auch eine bewusste Angelegenheit. Man kann Sachen langsam oder absichtlich zu schnell üben. Etc. pp. Unglaublich fand ich Rezept 131: Verschiebe doch mal mental die Taktstriche. Dadurch entstehen natürlich neue Patterns und beleben den Lernprozess. (Seite 136f) Wie man auf so was kommen kann, ist mir schleierhaft. Ich habe herzlich gelacht, als ich das mal ausprobiert habe. Irgendwie werden da einfache Volks- und Kinderlieder zu kleinen Kunstwerken und man kriegt einen völlig neuen Zugang.
In Teil D geht es um das, was ich mit Anna Goldsworthys Piano Lessons für mich entdeckt habe. Wie wirken Assoziationen auf Musik? Rezept 176 stellt fest: Assoziationen regen die Phantasie an und bringen Profil und Farbe ins Spiel. (Seite 176). Mantel macht Mut es mit Assoziationen zu probieren. Ich für mich habe festgestellt, dass ich dann anfange, nach der eigenen Interpretation eines Stücks zu suchen und vom Kopieren wegkomme. Und sich selber finden, das kann ja nicht schlecht sein, oder?
FAZIT:
a. Ein sehr gutes Buch, zu empfehlen für alle, die schon Akkordeon spielen können und weiterkommen wollen.
b. Interessant für Menschen, die lernen wollen, mit Fehlern umzugehen und mit Fehlern zu spielen. Ideal für Menschen, die immer schon geahnt haben, dass der Körper wichtiger ist als man im Musikunterricht erfährt. Gut auch für Menschen, die jahrelang beim Üben auf der Stelle tappen und einfach nicht weiterkommen. Zu mehr als 90 % sind fehlerhafte Übeabläufe daran schuld. Super für Musiker, die gerne experimentieren und ihr Gehirn spazieren führen und für Leute, die alles über alles wissen wollen.
c. Nichts für Leute, die nicht gerne lesen und Probleme haben, musikalische Sachverhalte aus Büchern zu entnehmen.
d. Zeitfressend für Menschen, die lieber Hörbeispiele anhören und einstellen wollen.
Absolute Kaufempfehlung. Ob es für euch auch etwas ist, kann man bei Amazon rauskriegen. Da lassen sich ein paar Seiten lesen, ohne das Buch gleich kaufen zu müssen.