Das heisst das ich auch ziemlich komplizierte songs lernen und nachspielen kann und auch ein ziemlich grosses lick repertoire habe. Wenn es dann aber zum spielen kommt hört ganze sich das ganze sehr mechanisch und nicht wirklich musikalisch an.
Hi,
"nachspielen" ist glaube ich das Stichwort. Das scheinst Du nach eigener Einschätzung auch schon gut zu können, aber Musik
machen, also selbst eigene Melodien und Rhythmen erzeugen, geht darüber einfach hinaus. Nachspielen und fremde Licks zu lernen ist ein notwendiger Anfang, denn wir alle starten als Zwerge auf den Schultern von Riesen. Damit meine ich all die wunderbaren Musiker, die vor uns wunderbare Musik erfunden haben, die es so vorher nicht gab. Man kann keine Musik machen, ohne auf all dem aufzubauen.
Du bist emotional nun darüber hinausgewachen und nicht (mehr) mit dem Herzen dabei - und so klingt es dann auch. Chrissie Hynde von den Pretenders hat mal sinngemäß in einem Interview gesagt: "Wir haben alle nur die gleichen verfickten 12 Töne zur Verfügung, also musst Du sie mit Deinen EIERN spielen!" Man kann das natürlich auch etwas vornehmer ausdrücken, aber so ist die Dame nun mal... Was sie meint, stimmt jedenfalls zu 100 %: Musik verliert ihren Sinn, wenn Sie nicht aus einem inneren Bedürfnis entsteht, und das hörst Du und es hören auch Deine Zuhörer. Dennoch muss man dieses Bedürfnis erst irgendwie kanalisieren lernen, und es gibt schon auch Techniken, die einem helfen, diesen kreativen Prozess anzustoßen - wie der Anlasser dem Automotor den ersten Schubs gibt.
Alles Erfinden neuer Musik, sprich Komponieren, beginnt für mich mit dem Improvisieren. Nimm einen Backing Track von etwas, das Du kennst, und versuche mal, andere Dinge dazu zu spielen als im Original. Vertausche die Reihenfolge der Töne, den Rhythmus, die Phrasierung, höre in Dich hinein und finde etwas, was Dir auch oder vielleicht sogar besser gefällt als das Original. Und spiele über Bluesfolgen, selbst wenn Du kein ausgesprochener Bluesfan bist. In den 12-Takter kann man sich einfach mal richtig reinfallen lassen, und er ist so simpel, dass man ihn schnel verinnerlicht und sich dann auch mal eine halbe Stunde in die Improvisation fallen lassen kann. Das wäre für die meisten Zuhörer irgendwann sicher grausig (15 Minuten Gitarrensolo "Blues in G" bei der Kneipen-Jamsession
), aber darum gehts hier ja nicht. Es hilft Dir aber in den Zustand zu gelangen, in dem Du den Kopf auch mal ausschalten und tiefere Regionen Deines musikalischen Gefühls anzapfen kannst. Gerade weil es sich außerhalb definierter Melodien und Songstrukturen bewegt, hast Du dabei einfach mal jede Menge Freiheit und einen weiten Raum, denn Du füllen kannst - ein Gefühl, dass Du dann in andere Stile zu übertragen lernst.
Das wichtigste aber:
Nimm jeden Ton ernst. Spiel ihn nur, wenn er für Dich eine Bedeutung hat, dann wird er auch nicht mechanisch klingen. Sing oder pfeife eine alternative Melodie, statt sie zu spielen, das kommt oft leichter und natürlicher aus einem raus, wenn man es unmittelbar auf dem Instrument noch nicht gewohnt ist (und Du vermeidest, nur in automatisierten Fingersätzen zu denken). Findest Du ein kleines Motiv, versuch es danach auf der Gitarre nachzuspielen - die Musik muss erst in Deinem
Kopf sein, bevor sie aus Deinen Fingern kommen kann.
Ein anderer, etwas technischerer Ansatz:
Lerne Skalen. Du weißt, eine bestimmte Akkordfolge eines vielleicht bekannten Liedes bedeutet, es steht in der Tonart A-Moll. Also spiel einfach mal die A-Moll-Tonleiter über diese Akkordfolge rauf und runter. Du wirst bald merken, dass zwar alle leitereigenen Töne überall "irgendwie" passen, aber manche an bestimmten Stellen besser oder schlechter klingen. Das animiert Dich hoffentlich dazu, das sture Auf und Ab aufzubrechen und die Töne rauszuschmeißen, die Dich nicht ansprechen, und andere an die Stelle zu setzen. Platziere die Noten auch mal bewusst gegen den Takt, dann
musst Du sie mit Nachdruck und Überzeugung spielen, anders hältst Dus sozusagen nicht aus. Oder Du spielst über die ganze Akkordfolge immer wieder den gleichen Ton (möglichst nicht den Grundton der Tonart...), und Du spürst, wie er sich in manche Akkorde der Folge völlig einfügt, mit anderen aber wieder reibt - was aber auch gut sein kann und was die Musik wie alles im Leben eben auch mal braucht. Sonst wäre in Bier nämlich auch kein bitterer Hopfen drin...
Viel Spaß und keep rockin',
bagotrix