Das war Ende der 70er, als sich Synthesizer ausbreiteten, mal eine Befürchtung, nämlich daß alle traditionellen Instrumente durch den Synthesizer verdrängt werden – und die Musiker gleich mit, weil mal jemand gesehen hat, wie ein Synthesizer "von ganz alleine" (also per Sequencer) gespielt hat.
Die einzige Gefahr heutzutage ist nicht mehr der Synthesizer als richtiges Hardware-Instrument zum Anfassen, sondern der Computer mit entsprechender Software drauf. Und selbst da ist die Gefahr gering, daß dadurch wirklich langfristig nichtelektronische Musikinstrumente ganz ersetzt werden, zumal dieses Ersetzen nur im Studio stattfindet und mitnichten live. Abgesehen davon besteht das meiste davon sowieso aus fix und fertigen Samples, also digitalen Aufzeichnungen der Originalinstrumente, so daß Synthese zumeist kaum bis gar nicht stattfindet.
Im orchestralen Bereich gibt's gigantische Sample-Libraries wie die gigantisch große, leistungsfressende und horrende teure Vienna Symphonic Library. Die macht aber mitnichten echte Orchester überflüssig. Sowas wird zumeist zum "Skizzieren" eingesetzt, d. h. Filmscores und dergleichen wird erstmal mit der VSL eingespielt, damit vorab schon mal eine Idee rüberkommt, wie das dann fertig klingen wird. Die fertige Fassung wird dann von einem echten Orchester eingespielt. Aber wie gesagt: Mit Synthesizer hat das nichts zu tun.
Zugegeben, man hört auch in Popmusik und R&B/Soul/etc. immer wieder Bläser- und Streichersachen. Diejenigen, die es sich leisten können, nutzen da heute noch the real thing. Diejenige Musikerklasse, die es sich heute nicht leisten kann, konnte es sich noch nie leisten. Das gilt auch für Coverbands: Die Band-Preisklasse, wo heute der Keyboarder die Streicher von seiner Fernost-Workstation abfährt, hatte vor 50 Jahren einen Keyboarder, der die Streicher von einem Mellotron abfuhr. Heute sind die Streichersounds digital und liegen in einem ROM, damals waren sie analog und lagen auf 32 Tonbändern. Das Prinzip war dasselbe.
Für Bläser gilt das Ganze noch mehr. Vor 50 Jahren klangen die Hörner vom Mellotron scheiße. Vor 40 Jahren klangen die Hörner von der Stringmachine scheiße. Vor 35 Jahren klangen die Hörner vom Analogsynthesizer scheiße. Vor 30 Jahren klangen die Hörner vom DX7 scheiße. Seit 30 Jahren klingen samplebasierte Hörner scheiße. Warum verwendete man sie damals und verwendet sie heute noch? Weil jeweils der Einsatz echter Hörner nicht in Frage kam und kommt. Wenn man irgendwie echte Bläser auffahren konnte und kann, dann tat und tut man das auch.
Heutzutage sehen Rockmusiker mit Argwohn immer neue virtuelle Drummer, Bassisten und Gitarristen in Software-Form aufpoppen. Auch hier wieder: keine Synthesizer. Das ist zumeist Software für den mehr oder minder ambitionierten Amateur. Der Sologitarrist, der für seine Ideen keine Band zusammengekratzt kriegt, holt sich einen Software-Drummer und -Bassisten ins Haus. Auftreten wird er damit mit großer Wahrscheinlichkeit nie. Drum-, Baß- und Gitarrensoftware zusammen wird gelegentlich in härteren elektronischen Genres eingesetzt, wo die Offensichtlichkeit, daß da keine Menschen spielen, tatsächlich als Feature angesehen wird.
Auf der Bühne wiederum wirst du kaum jemals einen Sänger sehen, der seine Band in Softwareform auf einem MacBook mitbringt. Fast-Vollplayback ist im Rockbereich so unsexy, wie es nur geht. Außerdem kann er statt des Klapprechners auch einen MiniDisc- oder MP3-Player mit den fertigen Downmixes minus Gesang ans Pult hängen.
Das einzige, was wirklich im großen Stil durch moderne elektronische Musikinstrumente ersetzt wird, ist – jetzt kommt's – alte elektromagnetische oder elektronische Musikinstrumente. Und auch hier ersetzen Synthesizer nur Synthesizer. Statt eines 1979er Sequential Circuits Prophet-5 hat man meinetwegen einen aktuellen Dave Smith Instruments Sequential Circuits Prophet-6. Statt eines 1972er Moog Minimoog Model D hat man einen aktuellen Moog Sub-37. Noch häufiger werden live gleich Dutzende verschiedene Synthesizermodelle von 1967 bis 1986 von einem einzigen virtuell-analogen Synthesizer ersetzt. Oder die ohnehin vorhandene Workstation erschlägt das alles mit. Je nach Anspruch des Musikers und dessen Willen zum Aufwand.
Und was im elektrisch-aber-nicht-elektronischen Bereich so an elektronischen Surrogaten im Livebereich unterwegs ist, kann ich auch nicht als Synthesizer bezeichnen. Es gibt sie aber trotzdem. Niemand würde heute noch eine Hammond B-3, ein Leslie 122, ein Rhodes Mk 2, ein Wurlitzer 200A, ein Hohner Clavinet D6 und ein Mellotron M400 auf die Bühne wuchten (lassen). Das sind teure Sammler- und Museumsstücke, die sind alt, die sind jahrzehntelang gespielt worden, die sind groß und schwer und wartungsanfällig, und wenn sie in einem Zustand sind, in dem sie nicht ständig in die Werft müssen, sind sie so horrende kostspielig, daß sich niemand trauen dürfte, damit zu touren. Lösung: Die ganzen Tasteninstrumente ersetzt man durch ein Clavia Nord Stage, das auch mit 88 Tasten leichter ist als jedes einzelne davon, und das Leslie ersetzt man durch einen Neo Ventilator.
Wohlgemerkt: Im Studio gibt's auch diese Ersatztendenzen nur wenig. Und wenn, dann wird wieder durch dedizierte Software ersetzt und auch das nur dann, wenn man an das Original ganz einfach nicht herankommt. Wer eine Hammond nebst Leslie oder ein Rhodes hat, der setzt das auch im Studio ein.
Aber die Annahme, daß sich alle Welt einen Synthesizer hinstellt und damit eine ganze Band oder ein ganzes Orchester ersetzt, ist kompletter Unsinn. Ja, eine Workstation Baujahr 2017 hat qualitativ bessere Nachbildungen akustischer und elektrischer Instrumente als ein Tapekeyboard Baujahr 1967 oder ein Analogsynthesizer Baujahr 1982. Aber mit den besseren Möglichkeiten kam auch ein genaueres Hinhören und ein gestiegener Anspruch.
Im Imitieren nichtelektronischer Instrumente sind Synthesizer aller Art nach wie vor das, was sie schon immer waren: ein Notnagel.
Martman