In der Musik geht es ja ganz Allgemein darum, Spannung zu erzeugen. Musikalische Spannung im Bereich Timing und Off-Pitch-Spiel entsteht aber erst genau dann, wenn für den Spieler und den Zuhörer jeweils der genaue Beat bzw. die genaue Tonhöhe bekannt sind um gut gefühlt werden können. Erst durch dieses Gefühl werden ja die Abweichungen im konkreten Spiel hör- und erfahrbar und erst dann entstehen musikalische Spannungen und Entspannungen. Wenn ein Solist im Jazz laid-back spielt, spielt die Rhythm-Section üblicherweise klar und deutlich im Grundmetrum weiter - genau das erzeugt die beabsichtigte Spannung dieser Spielweise. So ist es auch mit der Tonhöhe: nur wenn diese genau erfahrbar und vorstellbar ist, wird off-pitch-Spiel musikalisch sinnvoll. Die Geigerin im oben erwähnten "Balthazar-Decency" trifft am Ende ihrer Glissandi eben den Ton wirklich (wie es auch das "Pitch-Bend-Wheel" bei Keyboards macht, das nach dem Loslassen immer wieder genau in der Mitte einrastet), die Sängerin bei "Speedy Ortiz" trifft ihre Töne so gut wie nie (zusätzlich singt sie noch ohne stimmliche Spannung). Ersteres zeugt von Können und damit guter Kontrolle des Effekts, letzteres (für mich) von Unvermögen.
Gleiches gilt auch für harmonische Spannungen, wenngleich das Thema natürlich viel komplexer ist und ich deshalb hier nur Stichworte dazu schreiben kann. Wenn alles "schräg" ist, ist gar nichts mehr "schräg", es entsteht keine Spannung ohne Auflösung der Spannung, für mich endet das dann schnell in Langeweile.
Wie schön und großartig dieses Prinzip Spannung-Entspannung klingen kann (für mich), möge man gerne im Stück "Turangalila - Symphonie" von Olivier Messiaen nachhören, deren letzter Satz vor kurzem beim Erföffnungskonzert der Elbphilharmonie erklungen ist (Hier mal ein You-Tube-Link des ganzen Stücks - nicht die Elbphilharmonie.Version), der Schlussatz kommt naturgemäß am Ende: ). Messiaen kann ganz schön "schräg", aber er findet stets die schönsten Auflösungen. Ich warne aber vorsorglich: wer schon Probleme beim Hören von "Balthazar "Decency" hat, wird bei Messiaen wahrscheinlich durchdrehen. "Decency" ist eigentlich ganz konventionell in jeder Hinsicht, die einleitenden Keyboard-Oktaven (im übrigen eine einstimmige Unsiono-Linie, keine Akkorde!) sind ganz diatonal wie überhaupt das ganze Stück in meinen Ohren kaum etwas "schräges" hat.
Wer Spass bekommen haben sollte an Messiaen, hier direkt noch ein Link: