Ein sehr interessantes Thema und eine Frage, die mich eigentlich seit dem kürzlichen Beginn meiner zweiten "Klavierkarriere" beschäftigt: was passiert vor dem geistigen Auge anderer Klavierspieler während des Spiels?
Bei mir ist es nämlich so, dass vor meinem geistigen Augen irgendwie nichts passiert.
Wenn ich ein neues Stück einübe, läuft es normalerweise so ab:
Im Schneckenzeitlupentempo übe ich die ersten paar Takte ein, bis sie einigermaßen, aber nicht perfekt sitzen. Dabei versuche ich aber, nicht stur Takt für Takt vorzugehen, sondern auch Rücksicht auf mir sinnvoll erscheinende zusammenhänge, z.B. in der Melodie, zu nehmen.
Dann gehe ich weiter zu den nächsten 2-3 Takten, wobei ich trotzdem immer wieder mal zu den ersten Takten zurückgehe und von diesen zum aktuellen Punkt spiele. So lockere ich das Ganze etwas auf, wenn mir nach der x-ten Wiederholung der neuen Takte etwas langweilig wird, außerdem sitzen dadurch die ersten Takte immer besser und ich kriege gleichzeitig die Übergänge zu den neuen Takten besser geregelt, als wenn ich diese stur für sich alleine üben würde.
Das ist so mein systematischer Ablauf.
Technisch sieht der Ablauf so aus, dass ich dabei hauptsächlich auf die Noten schaue und mir dabei innerlich vorlese, welche Taste ich mit welchem Finger drücken muss. Bei schwereren, komplizierteren Stellen hilft es auch, dies tatsächlich laut auszusprechen.
Je "auswendiger" die Noten sitzen, umso weniger schaue ich auf das Blatt und stattdessen mit stärker auf das Zählen gerichteter Konzentration vermehrt auf meine Finger.
Und hier beginnt mein (vermeintliches?) Problem.
Ist schwer zu beschreiben, irgendwie ist es so, dass je mehr ich ins Auswendigspielen komme, ich umso mehr den Überblick über die Notation verliere.
Ich sehe meine Finger, wie sie automatisch "irgend etwas" tun und höre, wie die Musik erklingt. Aber das ist dann einfach nur wie ein totaler Automatismus, ich sehe keine Noten vor meinem geistigen Auge, an denen ich mich bei Bedarf festhalten könnte.
Wenn ich irgendwo ins Stocken oder Stolpern komme, bin ich also ziemlich aufgeschmissen, weil ich dann total den Faden verliere und den Punkt nicht finde, wo ich einfach weitermachen könnte. Stattdessen gehe ich zwanghaft an die Stelle zurück, wo der Fehler passiert ist, damit ich von dort aus den Anschluss wiederfinde.
Ich habe von daher auch extreme Schwierigkeiten, einfach an beliebigen Stellen einzusteigen. Ich brauche da immer bestimmte Einstiegspunkte, von denen aus ich mich zu den eigentlich gewünschten Stellen vorarbeiten kann.
Irgendwie fehlt mir beim Auswendigspielen der Gesamtüberblick über das Stück, weil alles nur noch über das reine "Fingergedächtnis" abläuft, während das intellektuelle Gedächtnis auf Durchzug schaltet.
Deshalb bewundere ich auch Musiker so sehr, die bei einem Stück ansatzlos an einer x-beliebigen Stelle einsteigen können oder sich von Fehlern nicht beeinflussen lassen, sondern ihren Stiefel unbeeindruckt durchziehen.
Oder wenn in einer Passage eine bestimmte Notenabfolge über mehrere Takte identisch wiederholt wird, angenommen 5 mal.
Vom Blatt gespielt: kein Problem, da weiß man ja ganz genau, wo in welchem Takt man gerade ist.
Auswendig: hm.., war das jetzt erst die 4te oder schon die 5te Wiederholung...? Da kann man sich doch schon mal vertun.
Ich stelle mir das so vor, vielleicht liege ich da ja auch falsch, dass diese Leute zusätzlich zum (automatisierten) Bewegungsgedächtnis die Notation im aktiven Gedächtnis haben und entweder ständig vor ihrem geistigen Auge sehen, oder diese zumindest bei Bedarf blitzschnell innerlich abscannen können.
Es ist mir ein völliges Rätsel, wie die das machen.