Aber das Talent einer besonderen musikalischen Ausdrucksweise, (egal ob mit Instrument- oder Gesang-, frei aus dem Bauch heraus- oder nach Noten-) kann man m. E. weder erlernen noch sich aneignen, man hat es oder hat es nicht.
Diese Meinung ist sehr weit verbreitet.
Vielleicht kann ich verständlich machen, warum ich da anderer Meinung bin.
Für mich erhebt sich da zuerst einmal die Frage, was man unter "besonderer musikalischer Ausdrucksweise" zu verstehen hat.
Musikalischer Ausdruck entsteht durch feinste Abstufungen verschiedener Spiel-/Artikulationstechniken mit denen man Staccato/Portato/Legato, Rubato, Dynamik, Intonationsabweichungen, Vibrato ... erzeugt. Diese Spiel-/Artikulationstechniken kann man lernen. Dem einen fällt das leichter, dem anderern schwerer und manche glauben, es nie zu schaffen. Wenn man letzteren Musikschülern das Talent dafür abspricht, erhebt sich für mich die Frage, was in diesem Fall unter "Talent" zu verstehen ist, ob es da an der sogenannten Musikalität oder einfach "nur" an feinmotorischen Fähigkeiten fehlt?
Um nicht aneinander vorbei zu diskutieren, muss klargestellt werden was unter "Musikalität" zu verstehen ist. Das ist für mich etwas anderes als "besondere musikalische Ausdrucksweise".
Einerseits kann man "Musikalität" als Summe verschiedener Fähigkeiten sehen. Andererseits kann man unter Musikalität aber auch die spezielle Fähigkeit verstehen, Musik emotional zu erleben (sowohl passiv hörend als auch aktiv musizierend).
Wenn nun ein Schüler in der Lage ist, Musik emotional nachzuempfinden/zu interpretieren, diese Empfindungen beim Musizieren aber nicht umsetzen kann, weil ihm dazu die technischen Fähigkeiten fehlen, dann würde ich höchstens
seine Art zu musizieren als unmusikalisch bezeichnen, jedoch
nicht den Menschen selbst.
Wenn ein Schüler die feinmotorischen Fähigkeiten zum differenzierten musikalischen Ausdruck entwickelt hat, sie aber nicht einsetzt, weil es ihm an den entsprechenden emotionalen Empfindungen fehlt bzw. ihm die Fähigkeit fehlt, in die Musik emotionale Empfindungen hinein zu legen, dann ist
seine Art zu musizieren unmusikalisch,
weil der Mensch selbst (noch?) unmusikalisch ist.
Unmusikalisches Musizieren kann für mich daher zwei mögliche
Ursachen haben:
1. technische Unsicherheiten/Unzulänglichkeiten
2. fehlender emotionaler Zugang zur Musik
Während sich ersteres unter guter Anleitung durch Fleiß und Ausdauer in der Regel beheben lässt (es sei denn, man ist körperlich dazu definitiv nicht in der Lage), ist Punkt 2 eine ganz andere Herausforderung für Lehrer und "Orchestererzieher". Ob lösbar oder unlösbar kann meines Erachtens immer nur individuell beantwortet werden. "Patentrezepte" wird es dafür nicht geben.
Ein engagierter Musikerzieher wird sich in solchen Fällen die Frage stellen,
in welcher Form es möglich sein kann, einen emotionalen Zugang zur Musik zu vermitteln. Bei Kindern sind fantasievolle Geschichten ein guter Weg. Bei Erwachsenen, muss man aufpassen, dass diese Methode nicht durch unpassende "Geschichten" als "kindisch" abgelehnt wird. Den emotionalen Zugang zur Musik zu vermitteln erfordert bei Erwachsenen besonders viel "Fingerspitzengefühl". In jedem Fall ist er m.E. immer mit persönlicher Interpretation der Musik verknüpft. Und die ist unter Umständen nicht für jeden nachvollziehbar. Wenn nun jemand meine Interpretation nicht nachvollziehen kann, ist er dann unmusikalisch oder hab ich sie einfach nur schlecht erklärt/begründet ?
Wenn bei Erwachsenen das Ausleben/Zeigen von Emotionen aus unterschiedlichen Gründen (Erziehung, Rollenverständnis ...) gehemmt ist, ist es unter Umständen sehr schwer, emotional gestütztes musikalisches Musizieren hervorzulocken, weil dafür im Laufe von unter Umständen vielen Jahren entstandene Blockaden aufgebrochen werden müssen. Nun widerstrebt es mir aber, als Musiklehrer psychoanalytische Interpretationen des Schülerverhaltens/der Blockaden "zusammen zu basteln" und mit dem Schüler psychologisch aufzuarbeiten. Das ist einfach nicht mein "Job". Wenn ich also Blockaden spüre, muss ich die erst einmal so hinnehmen, den Schüler annehmen, wie er ist und erst einmal "einfach nur" anleiten, sozusagen auf technischer Ebene musikalischen Ausdruck zu entwickeln. Inwieweit je nach psychischer Verfassung des Schülers das Ziel erreicht werden kann, aus innerem emotionalem Erleben getragen zu muszieren, muss man abwarten.
Wenn nun ein Schüler aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage ist, Musik emotional zu erleben und man ihm auch keinen Zugang dazu vermitteln kann, kann man dann so jemanden als völlig bzw. hoffnungslos unmusikalisch bezeichnen? Mit "völlig ..." und "hoffnungslos ..." tu ich mich schwer. Aber viele scheinen den Zustand des "unmusikalisch seins" als unveränderbar anzusehen (man hat's oder hat's eben nicht). Ich bin der Meinung, dass in jedem Menschen ein Funken Musikalität steckt. Den Funken zu einem Feuer zu entfachen kann aber bei manchen Menschen sehr, sehr schwer sein. Und ich denke auch, das ursprünglich vorhandene Musikaliltät verschüttet werden kann.
Wenn jemand "aus dem Bauch heraus", also einfach nur nach Gefühl mit musikalischem Ausdruck musiziert, aber nicht erklären kann, ist das intuitiv und spontan ohne jede bewußte Analyse. Man kann sich aber genauso gut eine wie auch immer begründete Interpretation der Musik und einen dementsprechenden Ausdruck beim Musizieren systematisch erarbeiten. Da es immer mehrere Interpretationsmöglichkeiten gibt, ist das für Orchester-/Ensemblemusiker sogar ein Muss. Sonst macht ja jeder was er will. Deshalb besteht ja auch die wichtigste Aufgabe eines Orchesterleiters darin, die Musiker sozusagen auf einen Nenner zu bringen. Je besser der Orchesterleiter seine Interpretation erklärt, um so besser können die Musiker seine Vorstellungen umsetzen. Ist es für ein ausdrucksvolles Ergebnis notwendig, dass die Musiker aus einem inneren emotionalen Empfinden heraus musizieren, das sie den Vorstellungen des Orchesterleiters anpassen? Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Für mich steht aber fest: ein Profi muss in der Lage sein, genau den musikalischen Ausdruck zu erzeugen, der von ihm verlangt wird, ganz unabhängig davon, wie er selbst die Musik empfindet. Das ist eine vorrangig technische Sache. Wenn man diese Musik nur hört, ohne die Musiker zu sehen, wird sie, wenn sie gut gemacht ist und den Zuhörer auf welche Weise und aus welchen Gründen auch immer anspricht, überzeugen. Aber dann kommt da Dein Einwand:
Bei den verschiedensten Auftritten vieler Gruppen, hören meine Ohren oft etwas anderes als das was die z. T. fast versteinerten Gesichter (der an Noten klebenden) Musikanten aussagen. Der gewisse Funke zum Publikum springt nicht wirklich rüber. Die Musik lebt ja erst / nur durch den Menschen der sie macht, je nach Musikrichtung sollte der optisch menschliche Ausdruck, genauso stimmig sein wie der akustisch musikalische Ausdruck.
Das sehe ich auch so. Jedoch ist es meines Erachtens nicht zuallererst eine Frage der Musikalität der Musiker, ob das nun erreicht wird oder nicht sondern eine Frage der Übung. "Versteinerte Gesichter" sind meiner Erfahrung nach sehr häufig Ausdruck von Anspannung und Konzentration. Um so locker und entspannt sein zu können, dass man nicht "nur" musiziert, sondern auch den Funken zum Publikum überspringen lassen kann, bedarf es einer großen Souveränität nicht nur im Umgang mit dem Instrument, sondern auch der psychologischen Belastung (Lampenfieber ...). Bei Laiengruppen ist das vermutlich oftmals einfach zu viel verlangt.
Meiner Erfahrung nach spiegelt ein Ensemble in der Regel den emotionalen Ausdruck des Chor-/Orchesterleiters wider. Allerdings nur, wenn die Nase
nicht ständig in den Noten hängt. Den Blick von den Noten lösen zu können, oder die Noten so zu halten, dass man beides sieht (Noten und Chor-/Orchesterleiter) ist ebenfalls eine Sache der Übung und nicht der Musikalität.
Mein mit Fragen durchsetztes Fazit:
Es gibt durchaus Menschen, die aufgrund von Fähigkeiten, deren Ursache/Entwicklung möglicherweise nicht nachvollziehbar ist und die einfach da zu sein scheinen, mit sehr überzeugendem musikalischem Ausdruck musizieren, ohne dass ihnen der Lehrer viel erklären muss. Diese Fähigkeiten machen in der Summe das aus, was man im allgemeinen als musikalisch oder Musikalität bezeichnet. Ich glaube allerdings nicht, dass sich diese Fähigkeiten ganz ohne irgendwelche Beeinflussungen von außen (Vorbilder) entwickeln.
Zu diesen Fähigkeiten zählen auch solche, die bei entsprechender Anleitung mit viel Fleiß erworben werden können und schließlich dazu führen können, dass Schüler infolge einer entsprechenden Anleitung und ihres Engagements im Ergebnis genauso musikalisch musizieren können, wie derjenige, der das "irgendwie einfach so (scheinbar) von alleine" kann.
Obschon das hörbare Ergebnis vergleichbar ist, macht es aber trotzdem einen Unterschied, vermutlich insbesondere für den Musiker selbst, ob das Musizieren mit einem intuitiven emotionalen Erlebnis verknüpft ist oder nicht. Sobald der Musiker in der Lage ist, sich mit seinem Instrument souverän zu präsentieren, wird dieser Unterschied vermutlich auch für die Zuhörer (oder nur für zuschauende Zuhörer?) in irgendeiner Form sichtbar/spürbar/hörbar (?). Oder ist das eine Täuschung, etwas, das man als Zuhörer/Zuschauer selbst in das, was man hört und sieht hinein interpretiert? Oder spielt uns der Musiker dank schauspielerischem Talent nur im doppelten Sinne etwas vor?
Kann sein - kann nicht sein.
Für mich ist das eine offene Frage.
Viele Grüße
Lisa