Wenn 70% meiner Performance schon vorprogrammiert ist und nur noch ein kleiner Teil realtime von echten Menschen gespielt wird, dann kann ich ja gleich ne Platte auflegen... Irgendwie geht da gewaltig die Natürlichkeit und die Dynamik zwischen den einzelnen Musikern verloren, wenn sie nur noch zu vorgefertigten Tracks spielen...
Da stimme ich dir voll zu. Allerdings: wir sind hier im Recording-Forum, und eine Musikaufnahme ist nun mal per Definition ein künstliches Produkt. Wer Aufnahmen herstellt oder konsumiert, befasst sich nicht mehr mit lebendiger Musik, sondern mit einem abgeschlossenen Werk.
Die Popularmusik befindet sich schon immer, also seit ca. 100 Jahren im Spannungsfeld (besser: in einer Zerrissenheit) zwischen den Idealen, einerseits die authentische Emotion des Augenblicks zu suchen und andererseits diesen in eine vermarktbare Musikaufnahme umzuformen. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass Tonaufnahmen als stärkste Ausprägung des ewigen Festhaltens und der Kommerzialisierung von Musik und Jazz als stärkste Ausprägung musikalischen Individualismus' zum gleichen Zeitpunkt entstanden, ab ca. 1910. Die Vermarktbarkeit von Musik führte zu einer Gegenbewegung, dass bestimmte Musik - Jazz - so konzipiert war, dass seine Essenz, die Improvisation, sich einem Festhalten entzieht. Wenn man eine Improvisation aufnimmt und wieder abspielt, ist es keine authentische Improvisation mehr, weil der Musiker in anderen Zeiten/Orten/Umständen auch anders improvisiert hätte.
Durch die Verbesserung der Aufnahmetechnik klingen Aufnahmen heute überhaupt nicht mehr so, wie ein originales Ensemble, das die gleiche Musik live spielt. Livemusik ist nicht mehr maßstabsetzend für musikalische Ästhetik: die meisten Menschen kennen Musik nur noch von Aufnahmen, also als Kunstprodukt. Schon wegen solcher Basistechniken wie Mehrspuraufnahme und mehrere Mikrofone und Reverb hat eine Aufnahme kaum etwas mit einer Hörsituation bei Livemusik ohne Technikeinsatz zu tun. Das hat Rückwirkungen, sodass viele Ensembles nur noch unter dem Einsatz von viel Tontechnik live spielen können - sie bringen damit teilweise die Studioumgebung, die die Ästhetik ihrer Musik geprägt hat, auf die Bühne.
Wenn du also beklagst, dass viele Bands nur noch unter hohem Technikeinsatz spielen: ja, genau, anders wäre das garnicht möglich. Dann kommen unter Umständen wirklich die 70% vom Band, die du nennst: weil diese Bands Musik machen, deren Ästhetik von Technik geprägt ist.
Natürlichkeit und Interaktion zwischen Livemusikern ist eine nette Sache, die viele Leute im Publikum gerne beobachten und wahrnehmen, für die aber die wenigsten bereit sind, mehr zu zahlen. Ich glaube zu beobachten, dass insbesondere durch die Finanzkrise der letzten ~4 Jahre die Zahl der Veranstaltungen mit Livebands abgenommen und die Zahl der Veranstaltungen mit DJs zugenommen hat. Der Konsum von Musik hat halt einfach starke Rückwirkungen auf die Musiker, die Musikwelt und die musikalische Ästhetik.
Ich mein, irgendwann muss dann ja überhaupt keiner mehr Musik machen, da ja eh alles im Computer programmiert wird... Der Musiker schafft sich praktisch selbst ab...
Das stimmt, und in der Tat war die Schellack-Platte dazu ein erster Schritt. Die Schellack-Platte 2.0, nämlich der Computer mit einer DAW, führt diese Tendenz weiter.
Harald