Das verstehe ich nicht. Jeder Vokal wird in gewisser Hinsicht am Gaumen gebildet. Die NG-Position ist denkbar weit hinten und zudem konsonantisch.
Ja, das ist etwas missverständlich. Sagen wir mal so: Vokale werden durch die gesamte Stellung der Zunge gebildet. Rein akustisch sind im wesentlichen die beiden Formanten F1 und F2 dafür verantwortlich, welchen Vokal wir hören. Die beiden Formanten entstehen v.a. durch zwei Distanzen, und zwar die Distanz der Zunge zur hinteren Rachenwand (F1) und die Distanz der Zunge zum Gaumen (F2). Dabei gilt jeweils: geringe Distanz = erhöhter Formant, hohe Distanz = verringerter Formant.
Die beiden Vokale "i" und "u", die du genannt hast, sind gute Beispiele. Die Vokale haben beide einen niedrigen F1 (~ 300 Hz), d.h. die Zunge liegt relativ weit "vorne", der hintere Raum ist weit. Der große Unterschied ist aber, dass das "i" einen sehr hohen F2 hat (~2000 Hz) und das "u" einen sehr niedrigen (~ 800 Hz). Das heißt beim "u" ist die Zunge vorne tief, beim "i" hoch.
Wenn ich einen "Punkt" beschreibe, an dem ein Vokal gebildet wird, dann meine ich damit die
engste Stelle in diesem Konstrukt. Beim "i" ist die Zunge vorne so hoch, dass die engste Stelle am harten Gaumen liegt (palatal). Beim "u" ist die Zunge vorne tief, deshalb ist die engste Stelle weiter hinten im Bereich des weichen Gaumens (velar). Diese engste Stelle ist der Punkt, den du als "Stimmsitz" fühlst, weil sich dort bei entsprechender Atemanbindung tatsächlich ein Luftdruck aufbaut, den du spüren kannst.
"Vordersitz" bedeutet dann, dass die Vokale immer so gebildet werden, dass die engste Stelle im Bereich des Gaumens ist (harter oder weicher). Das Gegenteil dazu (
fehlender Vordersitz) passiert, wenn die engste Stelle "hinten" gebildet wird, nämlich durch eine zu geringe Distanz der Zunge von der Rachenwand. Dann rutscht der Stimmsitz wie man sagt "in die Kehle" bzw. "die hintere Weite fehlt". In diesem Fall bricht die Stimme. Genau aus diesem Grund gilt das "u" auch als "Vokal der freien Kehle", gerade weil es einen so niedrigen F1 hat.
Die zweite Möglichkeit, den Vordersitz zu verlieren, ist, dass man die Zunge "zu tief" hält und dadurch die "hintere Distanz" auch wieder geringer ist als die "obere Distanz". Diese Konfiguration ist typisch für das Falsett. Weil das "u" einen sehr niedrigen F2 hat, passiert genau das (Abrutschen ins Falsett) sehr viel leichter beim "u" als bei anderen Vokalen.
Die berühmte NG-Übung hat, wenn richtig ausgeführt, genau den Sinn, dass man die "Engstelle" immer am Gaumen bildet und nie an der Rachenwand. Wenn man sehr palatal singen will, kann man statt "NG" auch einfach "N" benutzen. Sowohl das "NG" als auch das "N" machen die Distanz zum Gaumen minimal, weil die Zunge ja direkt anliegt. Das Ziel ist es jeweils die Vokale genau so zu bilden, mit einer geringeren Distanz zum Gaumen als zur Rachenwand, und das wäre dann "Vordersitz".
Diese ganze Vokalgeschichte ist extrem weitläufig, was die Auswirkungen auf den Gesang betrifft. Der nächste Faktor ist dann halt die Klangfärbung. Die klassischen Sänger färben insgesamt sehr dunkel, das heißt sie Singen in einem Vokalraum mit niedrigem F1 und niedrigem F2 (= große hintere und vordere Weite). Deshalb modifizieren sie tendenziell Richtung "u", weil der Vokale eben genau beide Formanten niedrige hat.
Dann kommen aber natürlich die Obertöne dazu. Diese Geschichte hatte ich ja schonmal in irgendeinem Thread erzählt. In der Höhe müssen beide Formanten tendenziell steigen (d.h. es muss insgesamt "enger" gesungen werden), sonst wird der Gesang "instabil".
Tatsächlich kann man sich jetzt sogar "ausrechnen", welche Vokale unter welchen Voraussetzungen besonders schwierig/leicht zu singen sind. Wenn man bedenkt, dass der vordere Raum immer möglichst eng sein muss im Vergleich zum hinteren lässt sich z.B. folgern, dass ein Vokal besonders schwierig zu singen ist, bei dem die Formanten nahe beieinander liegen (hoher F1, niedriger F2). Das gilt z.B. für das offene "O". Einige andere Folgen:
- Klassiker singen so gut wie nie ein klares "a", weil das "a" als engster Vokal quasi genau das Gegenteil des "u" ist. "a" wird in der Klassik sehr stark Richtung "o" gefärbt. Nicht umsonst bezeichnet David Jones das "a" als den am schwierigsten zu erlernenden Vokal
- Keine Regel ohne Ausnahme: In der hohen Kopfstimme singen klassische Frauen fast ausschließlich auf dem Vokal "a", weil es der einzige Vokal ist, dessen F1 hoch genug ist, um auch auf diesen extremen Tonhöhen noch eine gewisse Vokaldefinition zu haben (für Vokaldefinition muss F1 > der Frequenz des gesungenen Tones sein).
- Der insgesamt schwierigste Vokal ist ein klares, offenes "O". Dieser Vokal wird im Prinzip bei allen Gesangsstilen modifiziert. Meistens in Richtung "a" (dann wird ein "französisches O" daraus). Ein klares "o" am harten Gaumen zu bilden ist eine sehr gute Übung fürs Belting.
- Die Vokale "u" und "i" sind am schwierigsten "brustig" zu belten (Ruf-Belten/Overdrive), weil charakteristische Voraussetzung fürs Ruf-Belting ist, dass die 2. Harmonische < F1 ist. Am besten brustig belten lässt sich entsprechend auf den Vokalen "a" und "ä" (hoher F1)
- Die Vokale "o" und "u" sind am schwierigsten "kopfig" zu belten (Edge-Belting/Screaming), weil charakteristische Voraussetzung fürs Edge-Belting ist, dass die 2. Harmonisches < F2 ist. Am besten kopfig belten lässt sich auf den Vokalen "i" und "ä" (hoher F2)
Die Konzepte von "Brustresonanz"/"Kopfresonanz" haben ebenfalls mit diesem ganzen Kram zu tun. Einfach ausgedrückt ist es etwa so:
- Brustresonanz entsteht, wenn die 2. Harmonische < F1 ist
- Kopfresonanz entsteht, wenn die 2. Harmonische > F1 aber < F2 ist
- Falsettresonanz entsteht, wenn die 2. Harmonische > F2 ist (daraus sieht man auch wieder schön, dass Falsett i.d.R. durch eine zu tief gehaltene Zunge entsteht)
- Pfeifresonanz entsteht, wenn der Grundton > F1 ist
"Brüche" an den Resonanzgrenzen ergeben sich, weil sich die Vokalanpassung entsprechend ändern muss. In der Bruststimme soll die 2. Harmonische ja < F1 sein. Deshalb ist die Strategie in der Bruststimme meist, den F1 zu erhöhen. Das bedeutet, dass die Zunge weiter nach hinten genommen wird. Die hintere Weite wird langsam aufgegeben. Treibt man das zu weit ("pushing chest"), wird die hintere Weite zu eng, der Vordersitz geht verloren und die Stimme bricht.
Deshalb muss die Strategie an einem geeigneten Punkt geändert werden, indem dem F1 "erlaubt" wird, von der 2. Harmonischen überholt zu werden. Hierbei ergibt sich dann bei nicht vorhandenem Vordersitz ein "Flip" ins Falsett, weil im Vorhinein nicht auf den F2 (obere Enge) geachtet wurde. Ist dieser zu niedrig eingestellt, wird er beim Umstellen auf Kopfresonanz gleich mit überholt.
Deshalb ist der Vordersitz (in dem Fall halt "Vordersitz" = Zunge näher am Gaumen als an der Rachenwand) extrem wichtig für den Wechsel von Bruststimme in Kopfstimme. Sogar wichtiger als z.B. die hintere Weite. Allerdings kann die hintere Weite helfen den Vordersitz zu erhalten, weil es eben auf die Relation ankommt (wo ist die Engstelle?). Generell gilt aber. Je größer Die Summe der beiden Weiten, desto mehr Atemdruck braucht man, um den Raum auszufüllen. Deshalb ist bei den Klassikern das Gewicht auf der Atemanbindung auch wesentlich größer.
Die Resonanzregister sind im Allgemeinen nicht deckungsgleich mit den Schwinungsregistern (das hatten wir ja auch schonmal). Klassiker wechseln z.B. früher in die Kopfresonanz als die meisten Contemporary-Sänger (weil Klassiker ja mit niedrigerem F1 singen). Einigen Untersuchungen zufolge wechseln sie aber sogar erst später von Voll- in Randstimme als ihre Contemporary-Kollegen.
KURZFASSUNG FÜR ALLE, DIE DEN GANZEN WUST NICHT LESEN WOLLEN
Vordersitz ist, wenn die Zunge näher am Gaumen liegt als an der hinteren Rachenwand und sich dadurch eine relativ "Engstelle" im Bereich des Gaumens ergibt. Diese kann dann durch die sich ändernden Druckverhältnisse als "Sitz" der Stimme gefühlt werden (so wie Foxx es tut).
EDIT: Kleiner Nachtrag. Im Übrigen ist der von mir gern verwendete Twang nicht dasselbe wie Vordersitz. Allerdings erzeugt Twang fast zwangsläufig Vordersitz, denn er wird in der Regel durch eine starke Annäherung des Zungenrückens an das Gaumensegel im Bereich der hinteren oberen Backenzähne erzeugt. Deshalb ist richtig Twangen in der Kopfstimme auch gar nicht so einfach, weil man die Enge eben weit hinten (velar) bilden muss, aber gleichzeitig den hinteren Raum nicht eng machen darf.