Was mich an diesem Thread - abgesehen von seiner chaotischen Themenvielfalt
- eigentlich am meisten verwundert, ist, wie man von der Überschrift aus überhaupt auf die Idee kommen kann (nicht alle, aber einige haben das ja gemacht), ausgerechnet auf die typischen Flitzefinger aus der Prog- oder anderen Metal-Ecken zu verweisen. Was, bitteschön, haben diese Herren mit "Standard" zu tun? Nur, damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich möchte deren Fähigkeiten nicht klein reden. Im Gegenteil bewundere ich ihre Virtuosität mindestens so sehr wie mich ihre Musik langweilt.
Wenn man die ganzen Nischenbereiche ausklammert und sich mal all den anderen Musikarten auf dieser großen, weiten Welt zuwendet: Was sollten "die alten Herren" denn befürchten müssen? Geben die jüngeren Herren (an dieser Stelle bitte die Namen beliebiger Gitarrenvirtuosen einsetzen) etwa vor, auf welche Weise man heute
standardmäßig Blues, Country, Soul, Funk, Reggae, Rock, Jazz, Folk/Liedermacher usw. zu spielen hat, um
modernen Erwartungen (so's die außerhalb von Musikerkreisen im Publikum überhaupt gibt) gerecht werden zu können? (B.B. King jedenfalls hat glücklicherweise noch nicht bemerkt, dass er eigentlich gefühlte 2 Millionen mal schneller spielen müsste, um sich
heutzutage überhaupt noch als Gitarrist bezeichnen zu dürfen.)
Hendrix, Blackmore, Schenker, Van Halen usw. haben schon vor Jahrzehnten zu ihren jeweiligen Zeiten die Leute mit ihrer Virtuosität verblüfft. Zu recht. Aber wurden sie dadurch auch "zum Standard", gehörten ihre Riffs und Techniken plötzlich und ganz selbstverständlich zu jedermans Repertoire,
musste man so und nicht mehr anders spielen können, um in der modernen Zeit (die heute schon lange Vergangenheit ist) zu bestehen? Vor noch längerer Zeit gab es Herren wie Paganini (Geige, Gitarre) oder Liszt (Klavier), die den damaligen Zuhörern ob ihres technischen Könnens den Atem raubten. Doch zum "Standard" haben sie's nie gebracht und wenn man sich die Liste der allgemein geschätzten großen klassischen Komponisten ansieht, dann wird man die damaligen Technikwunder tendenziell und insgesamt eher unter "ferner liefen" finden, während Künstler wie Bach, Mozart, Beethoven u.a. selbst nach Jahrhunderten ihre posthumen Zuhörer bewegen und inspirieren.
Nur dass keine Missverständnisse aufkommen: Natürlich hat sich das Gitarrespielen weiterentwickelt. Natürlich gibt es immer wieder neue Techniken, die sich ganz langsam aus der Ecke heraus weiter verbreiten, aus der sie gekommen sind. Das ist ganz normal und geht schon seit Jahrtausenden so. Man baut auf das auf, was man bereits hat, man reproduziert bereits Bekanntes und lernt dabei, man entwickelt Bestehendes weiter. Aber erstens dauert es sehr, sehr lange, bis irgendetwas zu einem "Standard" wird und zweitens gibt es kaum zwei Begrifflichkeiten, die sich mehr beißen als "Standard" und "Musikmachen". Musikmachen ist eine schöpferische und völlig individuelle Sache, bei der sich weder Künstler noch Publikum primär für irgendwelche technischen "Standards" interessieren. Als Mitte/Ende der 1970er die Punk-Bewegung in knappen 2 Jahren die Rock-Welt in ihren Grundfesten derart erschütterte, dass die Nachbeben selbst heute noch zu verspüren sind, spielten diese Bands oft (nicht immer) ganz klar weit unter allem, was man
damals schon auch nur ansatzweise als "musikalische Standards" hätte bezeichnen können. Und sie waren ihrer Zeit ganz offensichtlich problemlos gewachsen. Das ist eben das Schöne am Rock ('n' Roll), dass er sich nie großartig um Schöngeistiges gekümmert hat, sondern hauptsächlich direkt, authentisch und charismatisch sein wollte. Und das sind Qualitäten, die auch die "alten Herren" zur Genüge besitzen.