Also zunächst muss ich sagen, dass ich da sehr kurzfristig zu gefragt worden bin, den 2. Keyboarder zu machen. Also einer spielt Klavier, ich Keyboard/Synth.
Da wird's schon problematisch. Es gibt genügend ABBA-Nummern, die keinen Pianopart haben, aber mehr als zwei Synthhände brauchen, wo also euer Pianist Synthesizer spielen muß (ganz zu schweigen von denen, die fünf oder mehr Synthhände benötigen). Ich meine, ich weiß ja nicht, wie eure Setlist aussieht.
Eagle wär so ein Fall. Da gibt's die Leadfigur, vermutlich wieder ein Layer, an dem der Odyssey beteiligt ist, den "Vogelgesang", den Synthchor-Layer in der zweiten Strophe, das wären wohl deine Aufgaben. Und dann gibt's den quasi ad-lib dazwischenklimpernden Polymoog. Das heißt, euer Pianist wird den Sound eines superseltenen, fast schon obskuren und technisch ungewöhnlichen (wie gesagt, Oktavteiler statt Voicecards) analogen Polysynth emulieren müssen.
Oder die Unmengen an Sounds, die Lay All Your Love On Me notwendig macht. Vom Schichtflächensound für Akkorde über den mit einem Minimoog gedoppelten Baß und mehrere arpeggioartige Figuren bis hin zu Samples eures Gesangs für den Pitchdown-Effekt am Strophenende (die Formantverschiebung ist mit Livegesang so nicht machbar). Das kannst du nicht alles selber abfahren.
I Have A Dream ist auch so ein Synthfest, wo auch wieder so ziemlich nichts mit Samples nachahmbar ist, mit ROM-Werkssamples erst recht nicht, ganz speziell nicht die Leadstimme, die zwingend das Nachahmen eines Polysynth mit monophoner Filterhüllkurve notwendig macht. Abgesehen davon ist es wieder 100% pianofreie Zone.
Oder Move On, wobei das eher obskur ist. Mach mal dem Pianisten klar, daß er das nicht mit einem Flügelsound spielen kann und auch nicht mit einem Wurlitzersound spielen sollte, sondern mit einem eigens dafür gedrehten Synthsound. Derweil du unter anderem im Refrain wieder Gesangssamples einfliegst.
Überhaupt, wenn ihr als anderen Tastenmann einen Vollblutpianisten habt, wird der a) eventuell Schwierigkeiten haben, was anderes als Piano zu spielen, b) noch mehr Schwierigkeiten haben beim Umgang mit Instrumenten, die nicht nur aufs Abspielen von Presets auf ROM-Sample-Basis ausgelegt sind, c) definitiv kein Soundtüftler sein, d) nur sehr vage auf Sounds hören, weil sein Gehör hauptsächlich oder ausschließlich auf Piano geschult ist, also andere Sounds bzw. Instrumente detailliert hören weder können noch wollen, und e) vermutlich sowieso kein geeignetes Equipment haben.
Gut, wenn ihr umgekehrt einen Synthguru hättet, der nach Gehör genau sagen kann, welche Instrumente (inklusive Generation/Bauserie) da gelayert und mit welchen Effekten bearbeitet wurden, und der das klanglich wirklich auf Profi-Replica-Niveau nachbauen kann, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, daß er die Sachen händisch gar nicht spielen kann.
Das Beste an dem ganzen Projekt ist aber, das ich auch keine richtigen Noten habe, ich habe nur Klaviernoten, wo Akkorde drüber stehen. Sprich = Ich muss mir auch noch alles selbst raushören, was an Synths in den Liedern abgeht etc.
Das kommt noch dazu. Um ABBA vernünftig zerlegen zu können, etwa den Schichtkuchen Arrival (wo euer Pianist wieder authentische Synth- bzw. Stringmachine-Sounds liefern darf), brauchst du schon eine gute HiFi-Anlage und entweder Original-CDs, verlustfrei komprimierte Musikfiles (also nicht MP3, sondern FLAC) oder gar eine LP in möglichst gutem Zustand. Dann muß du wissen, was ABBA da an Besteck zur Hand hatten, welcher Synth was kann, welcher Synth wie klingen kann und bei ABBA schon wie geklungen hat, und somit auch, welcher Synth an welcher Stelle zum Einsatz gekommen sein könnte. Ist leider nicht alles so einfach zu zerlegen wie Waterloo, Intermezzo No. 1 oder Why Did It Have To Be Me.
Bei der letzten ABBA Tributeband die ich auf einem Stadtfest erleben durfte, kamen alle Synthsounds aus einem GM-Rompler. Die gedoppelten Stimmen des ABBA Leadgesangs kamen aus dem Voice-Prozessor. Die Band war laut Flyer eine professionelle Tributeband. Der Gimme Gimme Intro-Sound war ein Panflötenlayer. Gestört hat das wenige.
Vielleicht war die Hupe gar nicht programmierbar, und der Tastenmann kann sich nichts besseres leisten, obwohl in einer "professionellen" ABBA-Tributeband, wenn sie gut genug ist, so Sachen drin sein müßten wie Arturia Origin oder zumindest ein Virus für ein paar der Synthsachen (ausgenommen Yamaha und Polymoog).
Vielleicht war der Tastenmann nicht so technophil, daß er an seinem Instrument in die Tiefen der subtraktiven Synthese (auch mal der alten Schule mit 5 Grundwellenformen) abzutauchen bereit und imstande gewesen wäre, authentischere ABBA-Sounds zu bauen.
Vielleicht hörte er auch für Synthesizerspieler-Verhältnisse nicht genau genug hin, als daß er Klänge so genau hätte differenzieren können; womöglich unterschied er gar wie so viele nur zwischen einer Handvoll Grundsounds: A-Piano, E-Piano, Orgel, Akkordeon, Streicher, Bläser, Flöte, Synth.
Das Publikum hat sich daran wenig gestört, aber ich wette, sie hätten größere klangliche Authentizität anerkennend zur Kenntnis genommen.
Letztlich muß man sich auch hier fragen: Für wen spielt man? Will man nur "abliefern" für Berieselnlasser und zugeglotterte Mitgröler, weil es nur das ist, wofür der Veranstalter zahlt? Will man die Oldiehörer zufriedenstellen, die sich wehmütig an die 70er erinnern, als sie noch jung waren? Will man eingefleischten ABBA-Fans, die über den Gesang von Agnetha und Frida hinaus auch die Arrangements und den dichten Sound hören und mit Sicherheit über die Veranstaltung informiert sind, eine dem Begriff "Tribute-Band" würdige Show bieten? Will man mit sich selbst zufrieden sein und sagen können, man hat alles gegeben, was man geben konnte? Will man vielleicht auch die Musikerpolizei, Abteilung Vintage-Synthesizer, beeindrucken?
Martman