In den Bänden der MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) stehen eine Reihe von ausgezeichneten Artikeln zur Entstehung der Heptatonik und zur Entstehung des Dur-Moll-Systems. (Cudo hat die online-Quelle von einem gefunden.)
Die Entstehungsgeschichte ist so komplex, daß man auf die gestellten einfachen Fragen unmöglich eine einfache Antwort geben kann. Durch eine Beschränkung auf "Fakten" wird die Aufgabe noch einmal um eine Größenordnung erschwert, denn so ergiebig sind viele Quellen nicht, als daß man Legende und Wirklichkeit ganz selbstverständlich voneinander trennen könnte.
Die Angaben in der antiken Legende
Pythagoras in der Schmiede sind z.B. physikalisch falsch und das berühmte Monochord mit dem Pythagoras gearbeitet haben soll, wurde möglicherweise erst lange nach seinem Tod eingeführt.
Wem ist heute noch bewußt, daß die alten Griechen drei Tongeschlechter kannten (Diatonik, Chromatik, Enharmonik). Sie basierten auf unterschiedlichen Tetrachordteilungen, lagen in einer Reihe unterschiedlicher Stimmungen vor, die u.a. verschiedene Varianten von Viertel- und Halbtönen enthielten. Das alles bei einer einstimmig ausgerichteten Musik, die i.d.R. von absteigenden Tonleitern gekennzeichnet war.
Vorschnell haben wir wohl die Tendenz, die überraschend komplexe Musik früherer Zeiten nur im Hinblick darauf zu deuten, inwiefern sie Vorstufen zur heutigen Musik darstellt.
Es wurde schon von Günther Sch. angedeutet, daß die Enstehung der Dur-Moll-Tonalität etwas mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit und der Kadenz mit ihren Leittonbeziehungen zu tun hat.
Die Entstehung einer dominantischen Tonalität lokalisiert man in die Zeit um 1430. Alle drei Hauptfunktionen (T, D und S) treten erst um 1550 auf. (Carl Dahlhaus: "Tonalität" in MGG, S. 626)
Ich denke, man kann davon ausgehen, daß historisch gesehen, unser heutiger Tonvorrat eher nicht aus der Obertonreihe stammt, sondern aus geschichteten Quinten (Quint=erster neuer Ton der Obertonreihe).
Ganz anschaulich bezeichneten die alten Chinesen diese verwandschaftlichen Beziehungen als Sohn (1.Quinte), Enkel (2.Quinte), Urenkel (3.Quinte) usw.. Entstehende Unverträglichkeiten entfernterer Quinten zum Ausgangston beobachteten sie ebenfalls und kamen zur der sehr menschlichen Aussage, daß bestimmte Enkel nicht miteinander heiraten können (Dissonanz). (Sie unterschieden männliche und weibliche Stammtöne.)
Die Konsonanz der Terz wurde endlich gewürdigt im Rahmen der Entwicklung der Mehrstimmigkeit. Erst nun, in der Renaissance, wurde die pythagoreische Stimmung durch eine rein gestimmte Terz abgelöst (
Reine Stimmung bzw.
mitteltönige Stimmung).
Unsere heutige gleichstufig temperierte Stimmung wurde übrigens zuerst von Chu Tsai-yü 1584 in China sehr genau berechnet und in Europa, unabhängig davon, 1588 von Zarlino exakt geometrisch dargestellt, also lange vor Werckmeister (1645-1706).
Zurück zu einer Ausgangfrage, die noch nicht behandelt wurde:
möchtegernbach;5429736 schrieb:
... wenn ich nach dem ursprung der sieben kirchentonleitern frage bekommen ich meisst die antwort ''von der orbertonreihe'' aber wie diese jetzt von ihr abgeleitet wurden weis ich nicht.
Die Stammtöne unserer diatonischen Tonleiter können leicht von der Obertonreihe abgeleitet werden, obwohl dies entstehungsgeschichtlich wohl kaum eine Rolle gespielt haben dürfte:
1. Man nehme die ersten drei verschiedenen Obertöne (Oktaven als gleich betrachtet). Resultat: der Dur-Dreiklang
2. Man wende das Verfahren auf die nächsten Quinterverwandten (Ober- und Unterquinte) an. Resultat:
Unsere Stammtöne in reiner Stimmung!
Rechnung:
Frequenzverhältnisse
Dur 4 : 5 : 6
Oberquinte: 6 : 7,5 : 9
Unterquinte:8/3 : 10/3 : 4
oder mit 6 erweitert, damit wir bei den ganzen Zahlen bleiben:
Dur 24:30:36
Oberquinte: 36:45:54 (neu: 45 und 54->27)
Unterquinte: 16:20:24 (neu: 16->32 und 20->40)
(-> = oktaviert)
Richtig sortiert, ergibt sich die Stammton-Reihe:
24, 27, 30, 32, 36, 40, 45
vergleiche:
Reine Stimmung (hier die
Quelle der Tabelle der Frequenzverhältnisse)
Code:
24:24 1/1 Prim
27:24 9/8 große Sekund
30:24 5/4 große Terz
32:24 4/3 Quart
36:24 3/2 Quint
40:24 5/3 große Sext
45:24 15/8 große Septim
War doch gar nicht so schwierig, oder?
Folgende reine Stammtöne treten auch direkt in der Obertonreihe/Naturtonreihe (harmonisches Spektrum)
eines Tones auf:
Teiltöne:
Prim: 1, 2, 4, 8, 16...
große Sekunde: 9, 18...
große Terz: 5, 10, 15...
Quinte: 3, 6, 12...
große Septime: 15, 30...
Man sieht, daß die Töne der Dominante alle vorhanden sind, im Gegensatz zur Subdominanten (die reine Quart und die große Sext fehlen).
Man könnte daraus ableiten, daß Dominante und Tonika enger verwandt sind als Subdominante und Tonika.
Wie wir oben gesehen haben, wurde das interessanterweise historisch in der Anwendung auch so nachvollzogen. Um 1430 wurde eine dominantische Tonalität eingeführt, um 1550 auch eine subdominantische.
Auch in den einfachen Liedchen (z.B. Kinderlieder, Volkslieder) spielt die Dominante meist eine größere Rolle als die Subdominante.
Viele Grüße
Klaus