Stufentheorie vs. Funktionstheorie

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Die unterschiedlichen Bezeichnungen der Akkorde bei beiden Theorien kenne ich.
Aber was ist jetzt speziell der Vorteil der Funktionstheorie?
Also ich meine, wie wirkt es sich auf die Komposition aus?Warum sollte man Bach Stufentheoretisch analysieren, owohl man ihn auch prima Funktionstheoretisch analysieren kann.
Ich frage, weil wenn ein wirklicher Untersachied besteht, könnte man ja durch die Kombination beider Theorien neue Musik schaffen.
Ich hoffe ihr könnt mich aufklären.
 
Eigenschaft
 
Grau ist alle theorie, wer neue musik schaffen will, muss alle theorie vergessen (es schadet aber nicht, sie zu kennen). Nicht aus theoretischen erwägungen heraus entsteht musik, die theorie wird immer abgeleitet von der musikalischen praxis. Die harmonie wurde mehr und mehr funktional im 19. Jh., und so entstand die funktionstheorie (Riemann), die analyse kann nur ein lernprozess sein. Ein schriftsteller sollte lesen und schreiben können, ein komponist - - - - - - - -
Vieles ist historisch verwurzelt, wer heute fugen (außer als handgelenksübung) schreibt, sollte sich auch eine allonge-perücke aufsetzen, schon Beethoven hatte seine liebe not damit, und seine große fuge für streichquartett wie das finale von op.106 sind für mich ein wahrer horror.
 
Man muss aber erst alle Regeln kennen, bevor man sie brechen kann.
Bricht man sie ohne Grundwissen ist mein ein Stümper.
 
Regeln gelten nur für einen bestimmten stil, ziel eines komponisten ist, einen eigenen zu finden und sich selbst regeln zu setzen oder freiheiten zu nehmen, wenn er nicht nachahmer/epigone bleiben will. Als man Beethoven auf "verbotene" parallelen aufmerksam machte, sagte er "Wer hat sie denn verboten? Nun, ich erlaube sie". Wer auf neuland vorstossen will, muss gewohntes hinter sich lassen.
Dass jede kunst handwerkliches können voraussetzt, um nicht in stümperei auszuarten, versteht sich am rande, aber heutzutage kann stümperei äußerst erfolgreich und einträglich sein.
 
Unterschiedliche Darstellungen heben unterschiedliche Aspekte hervor.

Bei Sequenzen zum Beispiel finde ich die Stufennotation oft recht brauchbar; besonders wenn man sich in Moll befindet und die VII. Stufe in einer Sequenz auftaucht, ohne sich in die parallele Dur-Tonika aufzulösen ist es (zumindest bei Bach) einfach irreführend, "dP7 ohne Grundton" zu schreiben, weil man damit eine gewisse Funktionalität andeutet. Ein gutes Beispiel dafür ist der Anfang des Präludiums aus dem Orgelstück BWV 543 (mein absolutes Lieblingsstück von Bach :) ), wo jeder 2. (zerlegte) Akkord eine Stufe niedriger gespielt wird, darunter auch besagte VII. Stufe, während die Zwischenakkorde einfach ein Vorhalt zum nächsten sind. Die Anwendung von Funktionstheorie macht hier IMHO höchstens dann Sinn, wenn man zeigen will dass man hier wenig damit anfangen kann. :D

Was mich an der Funktionsdarstellung fasziniert ist der starke Bezug zur reinen Stimmung.
Die reine Dur-Stimmung wird durch abwechselnd große und kleine Terzen gebildet:
Code:
F - C - G - D  =   S - T - D
  a - e - h    (Sp) Tp - Dp
...die reine Moll-Stimmung dagegen aus abwechselnd kleinen und großen Terzen:
Code:
  F - C - G   =  sP - tP - (dP)
d - a - e - h   s - t - d
Diese Art der Darstellung eignet sich besonders gut für das Hervorheben von Terz- und Quintverwandtschaften.
 
Das gewicht der harmonischen funktionen ist eine entwicklung des 19.Jh.s, erst dann wurde musik vorwiegend vertikal aufgefasst, die vorklassische, eher linear ausgerichtete musik setzt andere prioritäten, das sollte man bei analysen berücksichtigen.
Gegenwärtig hat sich die praktischere stufentheorie wieder durchgesetzt, und eine vermischung ergäbe nur einen heillosen wirrwarr. In der musizierpraxis verständigt man sich eher mit "absoluten" akkordbezeichnungen, es kann ja jeder akkord in jeder tonart vorkommen, und "d-moll" zu rufen oder ein "d" in ein sheet zu schreiben, ist wesentlich kürzer als "zweite stufe von C-Dur" oder "subdominantparallele" .
Theorie ist nicht immer praktisch und die praxis nicht immer logisch.
 
Günter Sch.;2138764 schrieb:
und "d-moll" zu rufen oder ein "d" in ein sheet zu schreiben, ist wesentlich kürzer als "zweite stufe von C-Dur" oder "subdominantparallele" .

Mein Beitrag untergräbt jetzt etwas den Tiefgang der Frage vom Kleinenschredder :rolleyes: , aber da Du es gerade angesprochen hast:

Es gibt durchaus eine vereinfachte Stufenschreibweise = das "Nashville Number System", das in den 50er Jahren dort in den Studios "erfunden" wurde. Hierbei wird der Akkordname einfach nummerisch durch die Stufenzahl ersetzt:

Vorgabe z.B.: C 4/4, 100 bpm

1 4 5/4 6m7

heißt: 1 Takt C, 1 Takt F, 1/2 Takt G, 1/2 Takt F, 1 Takt A moll7 (alles im 4/4)

Sinn: Kein Umschreiben nötig, falls das Backing profilaktisch in verschiedenen Tonarten eingespielt werden soll (oder muss, falls unerwartete Stimmlagenproblem im Gesang auftauchen).
 
hm... also bach notierte noch in generalbass-schreibweise, während rameau schon funktional notierte.... später anfang 20. jhd. kam schönberg mit seiner harmonielehre und stufentheorie....

in amerika (und fast dem rest der welt) z.b. wird auch klassische musik heut wohl stufentheorethisch analysiert, während man hier in deutschland noch funktionstheorethisch rangeht....

ich persönlich halte stufentheorie insofern erstmal für die bessere herangehensweise, weil sie nicht automatisch schon diese norminative funktionale interpretation der musik enthält.

@kleinershredder: wenn dich neuere musik bzw. neuere modelle interessieren, solltest du dir z.b. vielleicht mal die "technique de mon language musical" von oliver messiaen anschauen. seine 'nicht umkehrbaren rhythmen' , 'skalen mit begrenzter transpositionsfähigkeit' etc. ... sind schon ganz spannend - auf jeden fall mal ne erfrischende abwechslung....
 
Die Stufentheorie ist schon viel älter, sie wurde schon Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt. Bei Schönberg, der von seinem Harmonielehrebuch übrigens sagte, er habe es von seinen Schülern gelernt, kommt dann die Unterteilung in starke und schwache Grundtonfortschreitungen dazu. Gardonyi und Nordhoff haben dann dieses wertende Begriffspaar durch die neutraleren Begriffe "authentisch" (Quinte abwärts, Terz abwärts, Sekunde aufwärts) und "plagal" (Quinte aufwärts, Terz aufwärts, Sekunde abwärts) ersetzt.

Um die musikalischen Vorgänge zu verstehen und für sich selbst nutzbar zu machen, ist ein System enorm hilfreich. Man kann über die Harmonielehre das Komponieren und Improvisieren erlernen. Dabei wird man irgendwann selbst entdecken, welches System einem am meisten weiterhilft.

Jedes System hat seine Vor- und Nachteile.

Der Generalbass ist im wesentlichen eine musikalische Stenographie, es ist zwar sehr eindeutig, welche Töne gespielt werden sollen, allerdings wird keine Wertung vorgenommen. Ähnlich ist es bei der absoluten Akkordbezeichnung.

Die Stufentheorie nimmt schon eine Wertung im mathematischen Sinne vor, die dann durch die Qualität der Grundtonfortschreitungen weiter differenziert werden kann.

Die Funktionstheorie weist den Akkorden bestimmte Rollen zu, sie versucht, das Spannungsempfinden des Hörers darzustellen.

Bestimmte Phänomene lassen sich besser mit der einen, andere besser mit einer anderen Theorie erklären. Sequenzen zum Beispiel sind die Stärke der Stufentheorie und des Generalbasses. In der Funktionstheorie würde eine tonale Sequenz ziemlich undeutlich und gewollt wirken. Die Stärke der Funktionstheorie ist dafür die Darstellung von hinführenden Harmonien und Modulationen, insbesondere der Begriff der Zwischendominante ist enorm hilfreich.

Will man in verschieden Tonarten komponieren oder improvisieren, so ist die Beschäftigung sowohl mit der Stufentheorie als auch mit der Funktionstheorie durchaus hilfreich. Ich habe ein eigenes System aus der Stufentheorie entwickelt, mit dem ich momentan die dringend benötigten Grundlagen für die Improvisation nachhole.

Ich denke, besonders für Lehrer ist es enorm wichtig, jedes System zumindest in den Grundzügen zu kennen und sich der Grenzen und Stärken jedes einzelnen Systems bewusst zu sein. Wenn man jede Theorie beherrscht, wird man sich um so schneller auf andere Musiker einstellen können, und das ist für das Improvisieren in der Combo, gerade aber für den Unterricht essentiell.

P.S.: Das Fremdwort für "vorbeugend" heißt "prophylaktisch".
 
Günter Sch.;2138423 schrieb:
Vieles ist historisch verwurzelt, wer heute fugen (außer als handgelenksübung) schreibt, sollte sich auch eine allonge-perücke aufsetzen, schon Beethoven hatte seine liebe not damit, und seine große fuge für streichquartett wie das finale von op.106 sind für mich ein wahrer horror.

Dann musst du mal Reger hören. ;-)
Aber das nur am Rande.

Ich dachte mehr, man könnte mit der Stufentheorie neues machen, weil ich sie fälschlicherweise für eine alternative Harmonielehre hielt. Das sie nur dazu da ist zu analysieren, war mir nicht klar.
Na ja dann werd ich mir wohl was anderes ausdenken müssen. :-(
 
Der musik geht es wie der bau- oder kochkunst: man braucht material (zutaten) und einen bauplan (rezept), um es zu verarbeiten, und schließlich sollte das produkt eine funktion haben. Im antiken Griechenland liebte man luftige säulenhallen und verbaute quadern und säulentrommeln aus marmor oder travertin, in Rom dominierte die ziegelbauweise, man erfand die wölbung, und mit einer art beton gelang die kuppel des Pantheon. Erst mit der Gotik fand man eine skelettbauweise, die erlaubte, in die höhe zu bauen, und seitdem murkelte man so dahin in "neo-stilen", vorher "romanisch" statt römisch, neo-griechisch in der renaissance, klassizismus, historismus, bis mit stahl, beton und glas neue baustoffe zur verfügung standen und neue formen erlaubten. Was da gebaut wurde, diente einem zweck: sich zu versammeln, zu regieren, zu repräsentieren. Für den privatbedarf begnügte man sich lange bescheiden mit holz.
Es gibt unendlich viele klänge, aber in Mitteleuropa traf man eine auswahl von 7 oder 12 tönen, die nach traditionellen rezepten verwendet wurden, seit über 100 jahren suchen die "zusammensetzer" (komponisten) nach neuen rezepturen, aber was sie kochen, schmeckt den meisten verbrauchern nicht, die lieber gewohnte kost zu sich nehmen. Die wird nun reichlich produziert und über massenmedien verbreitet, fast food verkauft sich besser als ausgeklügelte gourmet-diners und ist bedeutend billiger.
Wer nach neuen wegen sucht, benötigt unverbrauchtes material, das neue techniken ermöglicht, und wenn er nicht im elfenbeinturm landen will, muss er eine nische finden, in dem seine produkte erklingen.
Ich sehe eine revolution der klänge (wie im stahlbeton der architekten) in synthetischen klängen, die vielfach variabel sind und mit analogen nach bedarf gemischt werden können. Eine abkehr von Dur und moll mit allen ihren varianten, freie rhythmen, bilden neue hörgewohnheiten, die sich am leichtesten unterschwellig bilden. Eine solche funktion haben heute schon filmmusiken und untermalungen von fernsehspielen, da beklagt sich niemand über atonalität und dissonanzreichtum, weil diese musik nur hintergründig wahrgenommen wird, im traditionellen "konzert" hätte sie einen schweren stand.
Aus kartoffeln lässt sich kein risotto, aus reis kein kartoffelpurée machen, aber beides kann, durch wechselnde zutaten und "soffritti" verfeinert, sehr wohlschmeckend sein.
Gleiches material bringt immer eine gewisse ähnlichkeit hervor, man sehe granitstatuen aller zeiten, der stein ist hart und schwer zu bearbeiten, und so haftet ihm immer etwas rohes an im gegensatz zum marmor. Dur-moll-musik klingt immer ähnlich, dreiklangs-melodik ist bestimmt jemandem vor uns eingefallen, zwölfton-musik auch, zumal man die abfolge der reihen beim besten willen nicht akustisch verfolgen kann, und für die serielle der 50er jahre gibt es einen schönen vergleich: man nehme knete verschiedener leuchtender farben, durchgemischt wird es immer zu hässlichem grau.
Ich kenne aus vielen kongressen die redensart: "wir sind auf dem wege, aber noch nicht angekommen!", manchmal denke ich, es fehlt nur ein kleines stück.
 

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