Im ersten Akkord kommt ein b9-Intervall zwischen f# und g'' vor. Im dritten Akkord kommen gleich zwei b9-Intervalle vor, einmal wieder f# g'' und dazu noch c#'' d'''.
Die einzelnen Töne der Akkorde liegen weit auseinander...
Vielleicht gibt es ja noch mehr, was die Klangwahrnehmung beeinflußt?
... beinahe völlige(s) Fehlen funktionaler Bezüge...
Fällt dieses Beziehungssystem ... weg, so ist eine b9 einfach nur eine b9. Eine charakteristische Intervall-Farbe, die ihre ganz eigene Schönheit entfalten kann.
Ich gehe mal von MaBas Hörergebnissen aus und möchte weniger auf die funktionsharmonischen Bezüge eingehen, da diese hier kaum bedeutend sind. (Die konsonanten Dreiklänge der drei unteren Stimmen bilden Hm und F#m.)
Mir geht es um die Frage, was die Komposition trotz der ungewöhnlichen Tonwahl nicht nur erträglich macht und ihr eine ganz eigene Qualität verleiht.
Bei einem Fehlen funktionsharmonischer Bezüge spielen die
akustischen Eigenschaften des Tonmaterials wieder eine bedeutendere Rolle. Auf diese möchte ich ein wenig eingehen.
Wann klingt eine Kombination von Tönen konsonant, wann dissonant?
Das hängt bekanntlich maßgeblich davon ab, wie sich deren Obertöne zueinander verhalten. Gibt es hier Übereinstimmungen? Wenn ja, in welchem Ausmaß? Bei Mehrfachklängen eine recht komplexe Angelegenheit, die m.E. einen wichtiger Faktor darstellt, warum sich Gefühle durch Musik so nuanciert ausdrücken lassen.
Wie schon festgestellt wurde, ist das gesamte Stück diatonisch (genauer: Hm-Tonleiter).
Würde man versuchen, innerhalb einer Oktave sieben Töne zu finden, die eine möglichst konsonante Beziehung haben, so liegt, aus guten akustischen Gründen, wohl keine Tonleiter näher als die Dur-Tonleiter, welche bekanntlich die sieben diatonischen Töne enthält.
(Siehe u.a.
Manfred Spitzer, Musik im Kopf: Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Schattauer, F.K. Verlag (2006), S. 101)
D.h. beliebige Kombinationen genau dieser sieben Töne können, gemessen an der unendlichen Vielzahl von überhaupt möglichen Tönen, wohl gar nicht so sehr dissonant sein.
Das sähe bei Verwendung aller zwölf chromatischen Tönen schon anders aus.
Umgekehrt, nähme man von den sieben Tönen nur zwei weg, nämlich diejenigen, die für die Halbtonschritte notwendig sind, so käme man auf das noch konsonantere System der Pentatonik. Letztere ist ja bei Anfängern deshalb so beliebt, weil man beim Improvisieren praktisch nichts "falsch" machen kann.
Was ist nun das äußerste an Intervall-Dissonanz, was die Diatonik zu bieten hat? Es ist das Intervall der kleinen Sekunde, das im Stück in oktavierter Form reichlich Verwendung findet.
Nehmen wir das oben diskutierte b9-Intervall. Warum klingt dieses im Stück z.T. nur begrenzt dissonant?
Hier kommt eine der o.g. Beobachtungen ins Spiel:
"Die einzelnen Töne der Akkorde liegen weit auseinander..."
Lassen wir z.B. f#'' und g'' zusammen erklingen, so klingt das scharf dissonant.
Vergrößern wir den Abstand um eine Oktave, also f#' und g'', klingt das schon weniger dissonant. Bei f# und g'', was im Stück verwendet wird, klingt es schon ziemlich konsonant. Bei F# und g'' klingt es überraschend konsonant.
(Man sollte bezüglich der Konsonanz vorzugsweise musikalische Laien befragen, denn ausgebildete Musiker denken möglicherweise: "Das ist eine b9, wenn auch oktaviert, da weiß ich, daß die dissonant klingt, da brauche ich gar nicht so genau hinzuhören.")
Warum ist das so?
Mit größerem Abstand harmonieren die Obertöne des tiefen Tons mit dem höheren der oktavierten kleinen Sekunde besser!
In der Obertonreihe (
hier die Teiltöne) würde sich das das g'' über dem F# als 17. Teilton (= 16. Oberton) wiederfinden (Im Bild gerade nicht mehr abgebildet).
Das g'' kann sich also direkt in die Obertonreihe des F# einordnen und wird deshalb nicht als dissonant wahrgenommen.
Für die akustisch-mathematisch Interessierten, hier eine Berechnung des Intervalls 17/16 aus der Obertonreihe in Cent:
i = (lg p/lg 2)*1200
p = f2/f1
Quelle
i = (lg(17/16)/lg 2) * 1200
= (lg 1.0625)/0.3010) * 1200
= (0.026329/3.5295 Cent) * 1200
= 0.080272 * 1200
= 96.326
Gegenüber dem gleichstufig gestimmten Halbton (= 100 Cent) ergibt sich eine Abweichung von nur 3,7 Cent.
Das ist so wenig, daß es musikalisch praktisch nicht relevant ist.
Zum Vergleich die folgenden Abweichungen der gleichstufigen Stimmung zur reinen (bzw. Obertonreihe):
Quinte: 2 Cent
Dur-Terz: 14 Cent
None: 4 Cent
große Septime (
"natürlicher Halbton"): 12 Cent
Sogar die 14 Cent Abweichung der temperierten Dur-Terz von der natürlichen Stimmung wird in musikalischen Praxis "zurechtgehört".
Spielt die Trompete eine natürliche None oder einen natürlichen Halbtonschritt (große Septime (=maj7) - Oktave) fällt die "Verstimmung" gegenüber der gleichstufigen Stimmung praktisch nicht auf.
Durch weitere Faktoren wird die Dissonanz zugunsten einer konsonanten Wirkung verschoben:
Im dritten Akkord kommen gleich zwei b9-Intervalle vor, einmal wieder f# g'' und dazu noch c#'' d'''.
Denn hier liegen die zwei b9-Intervalle im Quintabstand vor, dem konsonantesten Intervall zwischen zwei Tönen, die mit verschiedenen Buchstaben bezeichnet sind.
Diese Beobachtung geht in die gleiche Richtung:
Ebenfalls wichtig scheint mir, daß unter der Oberfläche viele Quart- Quint-Relationen am Werk sind, die vor allem die kleinen Nonen zueinander in Bezug setzen.
Fazit: Im Stück werden zwar ungewohnte Klänge erzeugt, u.a. unter Verwendung des sehr dissonanten b9 und der maj7 - unterschiedlich okatviert. Der dissonante Eindruck wird aber durch folgende Faktoren eingeschränkt:
- Es wird ausschließlich die Diatonik verwendet
- Auch die vermeintlich hart dissonanten Intervalle maj7 und b9 können sich durch entsprechende Oktavierung besser in die Obertonreihe einordnen.
- Durch Quinten/Quarten werden zusätzlich konsonante Bezüge der eingesetzten Töne hergestellt.
Danke für das Stichwort
Pandiatonik! Wie man sieht, steckt selbst das "nur" siebentönige diatonische System noch voll überraschender Möglichkeiten, die auch von
Arvo Pärt ausgelotet werden.
Viele Grüße
Klaus