Widors Toccata: welches Tempo?

Akkordeonengel
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Hallo,

Ich möchte die Widors Toccata (5. Orgelsinfonie f-Moll; Opus 42 Nr. 1) einzustudieren und habe dazu fast alles: die Partitur und ein schönes romantisches Kirchenorgel mit mechanischen Traktur und Kegellade dazu. Eine wichtige Frage aber ist: welches Tempo ist diesem Werk natürliche? Maestro Widor spielte seine Toccata viel mehr langsamer als zeitgenössische Musiker! Bitte Hörproben:

Widor (1932):


Kalevi Kiviniemi (2013)


Das schnelle Tempo ist sehr beeindruckend und atemberaubend. Aber nur für den ersten Eindruck für mich. Je länger und sorgfältiger ich die Aufnahmen analysiere, desto mehr mag ich gerade das Tempo von Widor. Es ist kein "riesiger donnernder Wasserfall" von Tönen, aber man kann die "Brillanz der einzelnen Tropfen" viel mehr genießen. Akustik der Kirche, in der ich spiele, begrenzt nicht das Tempo des Spiels (im Sinne eines langen Nachhalls o.ä.). Bitte, was ist Ihre Meinung dazu? Welches Tempo des Spiels halten Sie für richtig und warum? Vielen Dank im Voraus für Ihren Ratschläge und Ihre Hilfe!

Gruß, Vladimir
 
Eigenschaft
 
Es gibt m.E. kein natürliches Tempo, sondern nur das Tempo, mit man als Solist oder Dirigent seine eigene Interpretation deutlich machen kann.

Eine gutes Beispiel sind die Interpretationen des äußerst bekannten Konzert für Orchester von Bela Bartok.
Haitink dirigiert es unter 37 Minuten, Karajan in rund 38 Minuten, der "bekannt langsame" Karajan-Antipode Celibidache braucht 53 Minuten und Solti sogar 56 Minuten.

Gruß Claus
 
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@Akkordeonengel, das ist ein sehr interessanter Vergleich, danke für die Links zu den beiden Aufnahmen.
Wie @Claus schon schrieb, steht es jedem Solisten, Dirigenten usw. frei, das Tempo auszusuchen, das ihm angemessen scheint oder das er einfach bevorzugt. Das ist das Schöne an der Freiheit de Kunst!

Dennoch ärgere ich mich mittlerweile immer öfter über zu schnelle und meiner Ansicht nach völlig überzogene Tempi. Es gibt auf dem (Klassik-)Musikmarkt viele Solisten mit begnadeter und hochvirtuoser Fingertechnik. Darunter aber nicht wenige, die die Musik dazu gebrauchen (um nicht zu sagen missbrauchen), nur ihre Virtuosität in den Vordergrund zu stellen. Das ist für mich "Zirkus", aber keine schöne Musik mehr. Solchen Noten-Galoppierern unterstelle ich pauschal, dass sie die Musik, die sie spielen, nicht wirklich verstanden haben, so sehr ärgere ich mich darüber.
Da haben die Töne keinen Raum, alles wird gehetzt, die Übergänge werden geschludert oder zur Achterbahnfahrt und jeder Charme geht verloren.
Das findet sein Publikum, denn Virtuosität und Noten Parforce-Jagden erfordern kein tieferes Verständnis vom Zuhörer, keinen Tiefsinn und Versenken, sondern mehr nur eine Art Formel1-Mentalität.

Ich will Kiviniemi auf keinen Fall mangelndes Kunstverständnis unterstellen, denn seine Virtuosität hat etwas beeindruckendes und diese Toccata verträgt durchaus auch ein schnelleres Tempo. Dennoch neige auch ich deutlich mehr zu Widors ruhiger Interpretation.
Das hat Größe, Wucht, vor allem die kraftvollen Pedal-Themen. Dabei kann man (trotz der historischen Aufnahmequalität!) alles andere noch sehr gut durchhören und verfolgen.
Alles ist da, nimmt sich Zeit und klingt voll aus.
Sehr beeindruckend!

Dagegen schlägt die rasante Spielart von Kiviniemi schon fast in eine Parodie oder Karikatur des Stückes um. Die Pedal-Themen eilen sehr und wirken schon fast etwas hektisch, wobei sie alleine von ihren Motivstrukturen und der Registrierung her immer noch wuchtig bleiben, dafür hat Widor schon gesorgt.
Aber alles darum herum löst sich schon in ein kaum noch zu verfolgendes und verwischendes Flirren auf. Das hat zwar auch etwas und ich kann dem auch etwas abgewinnen, aber auf Dauer nervt mich das auch eher und ich bin versucht zu sagen "nun mach doch mal nicht so schnell, lass dir doch Zeit".

Also alles in allem überzeugt auch mich Widors Spiel deutlich mehr.

Gruß, Jürgen
 
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Hallo Jürgen,

Darunter aber nicht wenige, die die Musik dazu gebrauchen (um nicht zu sagen missbrauchen), nur ihre Virtuosität in den Vordergrund zu stellen. Das ist für mich "Zirkus", aber keine schöne Musik mehr.

Genau! Deshalb möchte ich eine vernünftige und für Zuhörer auch eine akzeptable Interpretation erreichen. Ich halte jedoch eine enorme Steigerung des Spieltempos für nicht sehr vorteilhaft. Ich möchte Widors "Orgel-Karikatur à la Tour de France“ vermeiden. Deshalb tendiere ich dazu, eine etwas langsamere Version mit ausgeprägterer Phrasierung zu üben um die "innere Idee und Seele" des Werks deutlicher auszudrücken...

Gruß, Vladimir
 
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musst Du denn überhaupt vor Beginn des Übens das Zieltempo wissen? Du fängst doch sicherlich langsam an zu üben. Und dann steigerst du das Tempo so lange, bis dir das Gefühl sagt, "so passt es".
 
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Welches Tempo des Spiels halten Sie für richtig und warum?

Hallo Vladimir,

ich würde mir zuerst die Frage stellen: Was will ich mit meiner Interpretation ausdrücken? Was will ich besonders betonen? Auf was lege ich Wert? Und aus der Antwort ergibt sich, wie ich das Stück vortragen würde.

Beim Hören klassischer Musik von diversen interpreten ist mir schon oft aufgefallen, dass alte Aufnahmen oftmals deutlich langsamer gespielt wurden als neue. Und ich habe oftmals den Eindruck, dass damit dan oftmals nur die Virtuosität in den Vordergrund gerückt werden soll, mangels einer eigenständigen Interpretaion , mit der man das Stück sonst mit einem eigenen Chrarakter interpretieren kann. Mir ist das mal an einer Interpretation von Spanischer Musik aufgefallen, die ich von den Geschwistern Labeque auf Cd habe. Das Stück hat mir gut gefallen und mich beeindruckte auch die virtuose Präzision mit der das Stück gespielt wurde und das Stück klang auch an sich nett. Dann habe ich irgendwann mal eine alte Aufnahme von Arthur Rubinstein in die Finger bekommen bei der er das gleiche Stück deutlich langsamer im Temp spielte. Und auf einmal hat das Stück Ausdruck, Erhabenheit und Eleganz ausgestrahlt und klang in meinen Ohren um Klassen besser.

Und genauso geht es mir bei den von dir vorgestellten zwei Interpretationen: die langamere Version strahlt für mich Kraft, Fülle und Detailreichtum und nuancenreiche Tiefe aus, die ich genießen kann. Die schnelle Version beeindruckt durch die Virtuosität des Spielers, wirkt aber in der Summe auf mich "irgendwie flach" ohne Tiefe, wie ein schnelles dahinschwirren. Für mich sind in der langsameren Version mehr Details zu entdecken, die mir das Stück feiner differenziert. Mag sein, das dies in der schnellen Version auch alles enthalten ist - aber ich kann es für mich nicht mehr erkennen und damit verliert diese schnellere Version für mich an Detailreichtum - es verschwimmt.
 
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Guten Morgen,

Herzlich Dank für Ihren Meinungen, Ratschläge und Ihre Bereitwilligkeit. Sie haben mein Wissen sehr nach vorne gebracht. Natürlich werde ich es zunächst mit langsamem Tempo im Wohnzimmer üben. Aber dann, in der Kirche, muss ich mich an die Umstände und Kontexte anpassen, die Sie erwähnen. Natürlich muss ich zuerst die Möglichkeiten der Spielmechanik und der Windladen des Instruments berücksichtigen. Im zweiten Schritt folgt Akustik der Kirche. Und im dritten Schritt folgt es die schwierigste: dem Werk seines eigenes Leben, Tempo und Vitalität „einzuhauchen“, also könnte ich sagen "so passt es". Ich habe verstanden. Das Spieltempo ist nur ein kleiner Teil des breiten Konzepts der "Originalität des Musikers". Nochmals herzlichen Dank für Ihre Hilfe.

Gruß, Vladimir
 

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