Ich dachte erst, dass die Tonleiter hier die "erlaubten" Töne vorgibt, aber das kann es ja kaum sein, denn sonst wäre ja etwa ein G7 unmöglich, da der Ton "F" nicht Teil der G-Dur-Tonleiter ist.
Tonleitern sind zunächst entweder ein Darstellungsmittel für grundlegende musikalische Struktureigenschaften, oder als "Materialskala" das Ergebnis eines analytischen Abstraktionsprozesses.
Sie demonstrieren also entweder einen musiktheoretischen Sachverhalt, wie z.B. die Lage von Halb- und Ganztonschritten im abendländischen Dur-Moll-System, im Fall von G-Dur also bezogen auf einen Grundton "G", oder sie "extrahieren" das in einer konkreten Komposition verwendete Material und reduzieren es auf eine Skalendarstellung.
Beide Fälle haben noch nichts mit realem "Musikmachen" zu tun, insbesonders nichts mit Ge- oder Verboten, auch wenn sich durch Tonleitern
a priori bestimmte Materialbeschränkungen für die musikalische Praxis definieren lassen: "Beschränke dich auf die Töne der G-Dur-Tonleiter" wäre also eine Aufgabenstellung, in der eine Strukturskala zur konkreten Materialskala umfunktioniert wird.
Dass ein G7 in G-Dur vorkommen kann, ist eine Option, die nicht von der elementaren Tonleiterstruktur vorgegeben und bestimmt wird, sondern allein von der Eigendynamik der Harmonik, da Akkordstrukturen einer Tonart und Tonleiter einer Tonart nicht zwangsläufig deckungsgeich sein müssen.
Die von dir angeführten "Stufenakkorde" sind ein eigenes theoretisches Konstrukt (die sogenannte
"Stufentheorie") und erscheinen nur in ihrer abstrakten und daher idealtypischen Reduktion als "tonleiterartige Darstellung von Akkorden", der Gedanke dahinter ist aber ein anderer, der auf dem Prinzip der Quintbeziehung von Akkord-Grundtönen beruht:
Akkordfortschreitung, deren Grundtöne zueinander im Quint- (abwärts) oder Quartabstand (aufwärts) stehen, sind - unabhängig von den üblichen zahlenmystischen (Pythagoräer) oder physikalistischen Erklärungsversuchen (Obertonreihe) - für das Gehör ganz einfach
informationstheoretisch optimal, da sie einerseits neue Informationen bieten (zwei unterschiedliche Töne), andererseits aber auch Redundanz enthalten (ein gemeinsamer Ton), was die Integration der neuen Töne in bereits vorhandene Informationen erleichtert.
Dazu kommt noch die Möglichkeit, diese Akkordverbindung auch melodisch schlüssig durch akkorderweiternde Dissonanzen und ihre Auflösung legitimieren zu können, was dann bekanntlich bei Rameau im Prinzip der charakteristischen Dissonanzen mit funktionaler Wirkung systematisiert wurde:
Dominanten mit 7, deren dissonante 7 zur 3 des Folgeakkords in Quintabstand (abw.) fällt (V7-I, aber auch II7-V, III7-VI usw.) ,
Subdominanten mit 5 und 6, deren 6 zur Terz des Folgeakkords im Quintabstand (aufw.) steigt (IV5/6-I, aber auch V5/6-II, VI5/6-III usw.).
Da in diesem theoretischen Konstrukt die Dissonanzen von Vierklängen in die Terz des quintverwandten Folgeklangs aufgelöst werden, kann dieser Folgeklangs selbst wiederum die Bewegung durch eine Dissonanz vorantreiben, was zum tonal geschlossenen Kreislauf der "Großen Kadenz" führt:
[I maj7] - IV maj7 - VII° 7 - IIIm 7 - VIm 7 - IIm 7 - V7 - I .
In G-Dur : [G maj7] - C maj7 - F#m-7 - Bm7 - Em7 -Am7 - D7 - G
Diese (von Rameau ursprünglich allein durch Dissonanz und Auflösung definierte) Quintfallkadenz ist die Grundlage der "Stufentheorie", die davon ausgeht. dass jede Akkordstufe durch eine Quint- oder Quartbeziehung zum
vorausgehenden Klang legitimiert ist, und jede Stufe wiederum auf gleiche Weise den nachfolgenden Klang in das einbeziehen kann, was man als Wesen der "Tonalität" definierte, nämlich den Durchlauf aller diatonischen Stufen im Quintfall.
Wenn man diese Quintkette (IV-VII-III-VI-II-V-I) auf den Oktavraum komprimiert, läßt sie sich auch als Tonleiter darstellen (I-II-III-IV-V-VI-VII-I), wobei zwar die Akkorde auf den Akkordstufen erhalten bleiben, nicht aber das Prinzip ihrer Verbindung - wenn man in der Stufentheorie also
skalare Darstellung und die implizite
Struktur der harmonischen Quintbeziehung nicht auseinanderhalten kann, wird das ganze System unverständlich.
Überträgt man nun die Akkordstruktur der in der Schlusswirkung "stärksten" Dominante, der "Dominante der Tonika" (Dur-Akkord mit kleiner Terz) analog auf andere Akkorde, kommt es zu dem, was man heute als "Zwischen- oder Sekundär-Dominanten" bezeichnet. Diese harmonisch legitimierten Akkord-Analogien führen zwangsläufig kurzfristig zu "tonleiterfremden" Tönen, die aber nichts an der Tonleiterdarstellung ändern, da diese in den Grundtönen der Akkordstufen unangetastet bleibt:
In G-Dur, z.B.:
G7- C maj7 -
F#7 - Bm7 -
E7 -Am7 - D7 - G (tonleiterfremde Töne: f, a# und c#, g#).
Mir ist leider völlig unklar, was hieraus ganz konkret fürs Musizieren folgt.
Vielleicht wenigstens die Erkenntnis, dass weder Tonleitern, noch tonleiterartige Darstellungen von Akkordbeziehungen unantastbare Strukturvorgaben sind. Es sind idealisierte Darstellungen elementarster Beziehungsgeflechte - mehr nicht.