wann ist es klassik

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Wenn ich nen Lied schreibe für eine klassische Gitarre. Wer sagt mir dann ob es klassisch ist oder nicht?
 
Eigenschaft
 
Deine Ohren.
 
Es gibt ein paar (allerdings weder hinreichende noch notwendige) Kriterien für musikalische "Hoch-" vs. "Volkskunst" wie: (1) Herstellung vs. Eingebundenheit in eine situative Stimmung bzw. Atmosphäre, (2) Grad der (Aus-) Bildung von Musikern und Publikum, (3) Grad der theoretischen Reflexion bei Aufführung und Komposition (oft philosophische u/o religiöse Deutungen einschließend).
 
Heike schrieb:
Es gibt ein paar (allerdings weder hinreichende noch notwendige) Kriterien für musikalische "Hoch-" vs. "Volkskunst" wie: (1) Herstellung vs. Eingebundenheit in eine situative Stimmung bzw. Atmosphäre, (2) Grad der (Aus-) Bildung von Musikern und Publikum, (3) Grad der theoretischen Reflexion bei Aufführung und Komposition (oft philosophische u/o religiöse Deutungen einschließend).

Um ehrlich zu sein kapier ich das nicht.
Kann mir das vielleicht jemand mal ein bisschen ausführlicher erklären am besten zu jedem Punkt einzeln?
 
Ich versuchs mal: Da Heike zw. Hoch und Volkskunst unterscheidet, scheint sie den Ausdruck Klassik abzulehnen. Das macht auch eigentlich Sinn, da sich Klassik eigentlich auf eine bestimmte Epoche symphonischer (auch: Kammer, et al.) Musik bezieht. Macht dann aber doch keinen Sinn, weil fast jeder Klassik sagt.
Zu 1) Verstehe ich so: "Klassik" wird komponiert und dem Musiker vorgegeben. Gesteuert wird es dann im besten Fall durch den Dirigenten. Wiedergabe und Komposition von "Volkskunst" entsteht freier, hängt von der Stimmung ab, lässt Raum zum improvisieren. Dieser Punkt mag auf die Musik bis vor ca. 100 Jahren zutreffen, "E-Musik" oder "Klassik" danach lässt auch schon Raum (Clustertechnik etc.)
Zu 2) Verstehe ich nicht ganz, meint aber wohl, dass sich klassische Musiker mehr mit dem Stück und dem Komponisten beschäftigen müssen, das Publikum klassischer Musik zusätzlich noch mit den Musikern.
Zu 3) "Klassische" Stücke wollen meistens einen Inhalt transportieren (z.B. die Natur nachahmen: Sonnenaufgang, Vogelflug, was auch immer). Das muss der Zuhörer natürlich auch erkennen. Wenn ein Musiker heute mimetisch arbeitet, dann eher um Sounds zu bekommen, die es so noch nicht gab. Vgl. dazu mal Tom Morello von Rage against the Machine. Der hat mal gesagt, er stelle sich vor, wie ein Nilpferd am Ufer entlangrennt und versucht das dann auf die Gitarre umzusetzen.

Hoffe, ich habe dir geholfen und Heike halbwegs fehlerfrei exegiert....
 
jo ich denk jetz hab ichs kapiert
 
Interessante Deutung, Henk. :)

"Rage against the Machine" ist damit sicher zeitgenössische, klassische Musik. :redface:
 
Henk schrieb:
"Klassische" Stücke wollen meistens einen Inhalt transportieren (z.B. die Natur nachahmen: Sonnenaufgang, Vogelflug, was auch immer).

Natürlich gibt es da viele Beispiele (wie Z.B. Beethovens Symph. No. 6 "Pastorale"; Hummelflug, Karneval der Tiere, Schwan von Tuonela...). Gemessen an der Gesamtzahl "klassischer" Werke - allein im 19. Jahrhundert wurden geschätzt rund 20.000 Symphonien geschrieben - taugt die Definition "Natur nachahmen" jedoch in keinster Weise, "Klassik" zu beschreiben.
 
Ich habe auch nicht behauptet, das Mimesis ein eineindeutiges (sic!) Kriterium für klassische Musik sei. Ich sagte, dass klassische Musik meistens einen Inhalt transportieren will und das bezog sich auf meine Exegese von Heikes Ausführungen.
Und nicht böse sein: "Keinster" ist doppelter Superlativ, den gibt es gar nicht ;)
 
Ein Nachahmungsversuch (z.B. der Natur) findet doch nur bei der "Programmmusik" statt, bei anderen Richtungen der Klassik aber nicht.
Das ist ja nur ein kleiner Teil der Klassik, und demzufolge nicht einmal ein annähernd richtiges Kriterium für die Bestimmung von "Klassik".
 
Bevor ich da jetzt auch noch drauf antworte und mir nebenbei überlege, ob Kriterien richtig sein können (oder nur hinreichend/notwendig):
(3) Grad der theoretischen Reflexion bei Aufführung und Komposition (oft philosophische u/o religiöse Deutungen einschließend).
Das hat Heike gesagt und ich habe einen Aspekt davon erläutert. Schiebt mir bitte nicht Sachen hinterher, die ich nie gesagt habe.
 
Um zum musikalischen zurückzukommen

Ich habe mich vor kurzen mit einem Buch (von de Lamothe) zur Kompositionslehre beschäftigt. Gleich im Prolog hat sich der Author zu dem Begriff Klassik geäußert. Er meinte an fast allen Hochschulen der Welt hat eigentlich kaum ein Dozent bis jetzt wirklich richtig erfasst, dass Klassik selbst aus signifikanten Epochen besteht. Wie er das genau meint will ich Dir noch weiter erklären.
Das Problem liegt darin, dass die Studenten bestimmte praktische Übungen durchzuführen haben, in denen sie z.B. bestimmte Harmonieverläufe mit Kontrapunkten der klassischen Schule versetzen müssen etc.
Dem Author des Buches war dabei aufgefallen, dass jeder Dozent dabei eine andere Stilrichtung als richtig empfand (,denn den Kontrapunkt setzte man im Barock anders als in der Romantik).
Auch war es z.B. einer"zeits" verpönt parallele Akkordverschiebung(z.B. aus einem A-Dur Akkord mit ac#ea in einen E-Dur Akkord mit eg#he z wechseln) zu praktizieren, anderer"zeits" war es dann erlaubt und beliebt.

Was ich damitsagen möchte ist, dass der Begriff Klassik mit Vorsicht zu benutzen ist. Die Moderene Klassik Anfang des 20. Jahrhunderts wird schließlich auch als Klassik bezeichnet.
Wenn Du also Lieder für klassische Gitarre komponierst, dann ist es genau dann Klassische Musik, wenn Du sie musiktheoretisch auch in eine der Epochen einordnen kannst. Dabei mußt Du auch beachten, dass Dir unter Umständen das musikalische Wissen fehlt, um bestimmte spezifische Eigenheiten in Deine "Werke" einfließen zu lassen, die eine genaue Klassifikation überhaupt erst ermöglichen.
Wahrscheinlicher ist für mich, dass Du einfach Unterhaltungsmusik (so grausam es auch klingt) auf klassischer Gitarre fabrizierst...

Würdest Du sagen, dass Reinhard Mey mit "Über den Wolken" Klassik komponiert hat, nur weil er eine klassische Gitarre benutzt hat???
 
Yorn schrieb:
... dann ist es genau dann Klassische Musik, wenn Du sie musiktheoretisch auch in eine der Epochen einordnen kannst.
Retrospektiv: Ja, wobei dann gerade die epochemachenden Werke aus dieser Definition herausfallen würden. Wie erklärt sich mit diesem Modell musikalischer Fortschritt (temporal)?
 
Eine so schöne Frage kann ich nur mit einer Gegenfrage beantworten.

Wo liegt die Grenze zwischen Unterhaltungsmusik und Klassischer Musik?
 
Ebenfalls wieder die Gegenfrage: Retrospektiv? Dann gibt es sicher keine Grenze bis zu de Zeitpunkt, wo klassische Musik reproduziert wurde. Vorher war KM ja U-Musik. Vom heutigen Standpunkt aus? Dann hat sicher Heike in ihrem Beitrag ein ziemlich gute Trennung zwischen den beiden Bereichen gemacht. (Die m.E. auch für akademischen Jazz oder Blues gelten)
 
Nun ja ich bin da immer noch geteilter Meinung, weil ich finde, das der Inhalt eines Stückes sich mir nicht sofort offenbart, wenn ich zum Beispiel Titel und Hintergrund nicht näher kenne.
Ich würde immer wieder sagen ich bin beeindruckt von Smetanas Moldau, aber wüßte ich nichts näheres darüber, so würde mir die Intention des Komponisten nicht durch pures Hören deutlich werden.
Und das ist genau der Knackpunkt, den ich zu Heikes Kommentar sehe.
Kommt es nun nur auf die Intention des Komponisten an, oder auf den Eindruck der beim Hörer erlangt wird?

Einfache Antwort wäre : Beides

Aber das ist mit zu einfach.

Die Frage mit der Trennung in Unterhaltungsmusik und klassische Musik habe ich deswegen erörtert, weil ich genau Deine Antwort/Frage auch im Kopf habe.
Es gibt dazu (denke ich jedoch) ausreichend Literatur.
 
Aber gehört der Titel nicht auch zum Werk? Und selbst wenn du den Titel wüsstest, musst du dich auch ein wenig mit Geographie beschäftigen, um die Moldau kennenzulernen, ich glaube das ist dann der angesprochene Reflexionsgrad.
Die Hörer-Komponistenfrage ist ein wenig schwieriger. Wobei ich persönlich eine freie Assoziation des Lesers/Hörers/Betrachters mit dem Werk ablehne. Das ist mir zu dekonstruktivistisch. Ich bin mir sicher, dass der Verfasser uns Werkzeuge an die Hand gibt, mit denen wir arbeiten können, um das Werk zu verstehen, doch glaube ich nicht, dass es nur EINE Deutung eines Werkes gibt. Vgl dazu mal in der Literatur Umberto Ecos "Ästhetische Botschaft". Dort sagt er, dass jedes Kunstwerk nur dann ästhetisch und somit "Kunst" sei, wenn sie mehrdeutig (ambiguitiv) sei aber GLEICHZEITIG dem Rezipienten Schlüssel zur Deutung gebe und sei es der Titel bei Smetana.
 
"Dort sagt er, dass jedes Kunstwerk nur dann ästhetisch und somit "Kunst" sei, wenn sie mehrdeutig (ambiguitiv) sei aber GLEICHZEITIG dem Rezipienten Schlüssel zur Deutung gebe und sei es der Titel bei Smetana."

Interessante Deutung. Dieselbe Defintion gilt auch für die Struktur eines guten Witzes. Man muss ein wenig nachdenken, die Doppeldeutigkeit erkennen und ihn verstehen. Und zwar nicht zu schnell und nicht zu langsam.

Ich würde das sogar auf die Definition eins Hits erweitern: zu kompliziert und zu simpel fällt jeweils durch.
 
engineer schrieb:
Interessante Deutung. Dieselbe Defintion gilt auch für die Struktur eines guten Witzes. Man muss ein wenig nachdenken, die Doppeldeutigkeit erkennen und ihn verstehen. Und zwar nicht zu schnell und nicht zu langsam.
Wobei bei einem Witz im Gegensatz zur ästhetischen Botschaft die Doppeldeutigkeit erst durch ein tertium comparationes aufgelöst wird: Zwei miteinander nicht vereinbare Ebenen werden über eine dritte Ebene zusammengeführt. Die Kunst versucht sich aber gerade nicht aufzulösen (nach Eco) sonder ambiguitiv zu bleiben. Sie lässt dem Rezipienten nur Möglichkeiten offen, gedeutet zu werden.
 
Hallo,

das ist eine hochinteressante Auffassung von Kunst: Mehrdeutigkeit plus "Schlüssel" dazu. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob sich dieser Begriff von den "gegenstandsnahen" Künsten wie Literatur, Malerei, Bildhauerei problemlos auf die relativ "gegenstandsferne" Musik übertragen lässt. Natürlich gibt es jede Menge Programm-Musik: Smetanas Moldau, Beethovens 6., frühe Symphonien von Mahler, Berlioz' Symphonie Fantastique, usw. Dazu natürlich alles, was Lied, Opern, bzw. heutzutage Filmmusik betrifft, wo die Musik einen deutlichen Zusammenhang zum "Rest" des Kunstwerks hat.

Aber: Was machen wir mit Musik, die den Anspruch trägt, nur sich selbst zu genügen und keinen außermusikalischen Inhalt zu transportieren? Und selbst bei den wirklich guten Programm-Musiken: würde uns tatsächlich etwas fehlen, wenn wir *nicht* wüssten, dass hier eine "Szene am Bach" oder ein "Hexensabbat" dahinter steckt?

Natürlich gibt es auch rein musikalische Mehrdeutigkeiten (z.B. enharmonische Verwechslung, Polytonalität, etc.), aber die sind meiner Meinung nach eher Werkzeug als Träger eines künstlerischen Wertes.

Am Ehesten wird es vielleicht funktionieren, wenn ich sage, dass Kunst immer etwas Unerwartetes sein wird, wobei dieses Unerwartete sich in einem gewissen historisch & kulturell bedingten Rahmen bewegen wird. Die großen "Grenzüberschreiter" in der Musik (Beethoven, Bruckner, Mahler z.B.) haben diesen Rahmen sehr genau gekannt und sich dann am oder ein Stück ausserhalb dieses Rahmens bewegt (man konnte immer erkennen, dass dieser Rahmen existiert, aber soeben überschritten wird). Ein solcher Rahmen für Musik sind z.B. Regeln der Harmonie, Instrumentierung, Kontrapunkt, Formen, etc. - de la Motte hat in seinen Büchern sehr eindrucksvoll beschrieben, wie sich dieser Rahmen im Laufe der Jahrhunderte verändert hat.

Kunst wird immer diesen Kitzel haben, dass da eine Grenze überschritten wurde und etwas Einmaliges geschaffen wurde. Deshalb hat es auch keinen Sinn, heute genau wie Bach, Mozart, Beethoven zu schreiben: das ergäbe zwar "schöne" Stücke, aber der eigentliche kreative Geist dahinter ist eben leider nicht der Komponist :rolleyes:

Ciao,
Andreas
 

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