Du siehst - es gibt so viele Ansatzpunkte ... Kannst Du es konkreter fragen?
Nein, ich will nicht konkreter fragen. Ich glaube, wir kommen mit dem Thema weiter, wenn wir es nicht engführen, sondern breit lassen. Ich glaube auch, dass es eine "technische" Frage ist, die hierher gehört - wie immer man Technik in diesem Falle fassen mag und fassen muss.
Was tut ihr technisch, damit ein derartiges Szenario nicht eintritt?
Die Frage ist ja, was ist hier eigentlich das Szenario?
1. Möglichkeit: Hat der Pianist zu wenig geübt?
Das sieht nicht so aus, ich finde die schnellen Ketten am Anfang (bevor er rausfliegt) nicht schlecht. Der hat geübt. Da fragt man sich: Hat er falsch geübt?
Sich so oft wie möglich solchen Vorspiel-Situationen stellen.
Fehlten ihm vielleicht die von
@Jonny W genannten Vorspielsituationen? Hat er vorher nur im stillen Kämmerlein gespielt?
Will heißen: beim Üben trotzdem mitlesen und dabei bewußt auf den Verlauf und das Spielen konzentrieren.
Oder ist es so gelaufen, dass genau das andere Extrem passiert ist und er ZU konzentriert war. Man weiß ja, dass ein Zuviel an bewusster Kontrolle die unbewusste Automatisierung eines Stücks abschießen kann. Dann läuft mir das Hirn über und ich ärgere mich hinterher, dass mein Hirn glaubt, schlauer zu sein als mein Körper. In diesem Fall braucht man ja das Gegenteil von Training wie bei den Menschen, die unkonzentriert sind.
2. Möglichkeit: Ist der Pianist nicht locker genug?
Irgendetwas passiert, dass er rausfliegt. Ist er nervös? Dann würde die Nervosität das unbewusste Programm unterbrechen, das im Hirn abläuft und in die Finger hineinfließen will. Das habe ich auch schon mal erlebt. Meine Lösung vor einem wichtigen Vorspiel war zeitweise eine gewaltsame Drillmethode: Wecker auf die Tiefschlafphase gegen 04.00h stellen, das Stück spielen und aufnehmen, dann ins Bett gehen, weiterschlafen und hinterhergucken, ob es geklappt hat. Wenn nicht, dann vor dem Schlafengehen die inkorrekte Stelle noch mal eintrainieren. Und dann erneut von vorne. Ich kenne Menschen aus der russischen Pianistenschule, die ein ähnliches Verfahren kennen gelernt haben. Heute frage ich mich, warum man sich so was geben muss. Freilich spricht der Trainings-Effekt dafür.
3. Möglichkeit: Hat der Pianist seine Noten vergessen?
Ich spiele nicht auswendig.
Achso - ich glaube nicht, dass Auswendigspiel und Notenspiel da einen großen Unterschied macht.
Nun ja, fest steht, dass wir einen Trigger brauchen. Irgendwas muss unser Hirn motivieren, auf die Idee zu kommen, die richtigen Tasten zu drücken. Das können Noten sein. Sie entsprechen dem Leckerli, damit unser Hundchen schön Männchen macht. Noten sind Trigger. Die Frage ist, ob sie reale Trigger brauchen. Könnte es nicht etwas anders geben, was hilft. Innere Trigger, innere Bilder etwa? Ich spiele am besten, wenn ich innere Bilder vor Augen habe. Sie kommen mir beim Üben in den Sinn, wenn ich etwas spiele. Dann läuft visuell vor meinem inneren Auge während des Spielens etwa folgendes ab: 1.(Bild) Ich sehe einen Baum und spiele das Motiv, das mit diesem Bild verbunden ist. 2. Ich sehe eine Eule auf dem Baum sitzen und schaue sie mir aus der Nähe an, ich spüre, dass auch damit eine Phrase verbunden ist etc.pp. Ihr seht, dass nicht mehr die schwarzen Punkte auf dem Papier die Musik auslösen, sondern innere Bilder. Das hat den Vorteil, dass die Wahrnehmung der Musik ungemein intensiviert wird. Gleichzeitig wird das Tempo gleichmäßiger. In diesem Zusammenhang kommt mir der Film "The King's Speech" in den Sinn. Ist nicht die Methode des Sprachtherapeuten ähnlich, wie er den stotternden König therapiert?
4. Möglichkeit: Hat der Pianist die Wirkung des Publikums unterschätzt?
Manchmal sind 3 Leute nah bei Dir viel ätzender als 2000 anonyme in 20 Meter Abstand.
Juroren können nerven und stressen. Da bin ich mir sicher. Da gibt es Adler, die mit einem starren Blick versuchen, den kleinsten Fehler zu finden. Da gibt es Löwen, die aus wie auch gearteten emotionalen Gründen die Teilnehmer am liebsten zerreißen wollen. Da gibt es den eitlen Pfau, der sich sagt, so gut wie ich ist ja keiner hier. Freilich gibt es auch die unbeirrbaren Bären, die dir mit ihren Pranken einen freundlichen Klaps auf den Rücken verpassen, dich angucken und sagen: Wird schon. Die Bären mag ich, Adler und Löwen hasse ich, den Pfau finde ich unerträglich, aber am schlimmsten ist es, wenn man Adler und Löwe zusätzlich noch in sich trägt. Auch ein Kapitel für sich. Mancher zerbricht ja an den übertriebenen Anforderungen, die man an sich selber stellt.
5. Möglichkeit: Überschätzt der Pianist seine Möglichkeiten?
Ein endloses Feld. Ich nehme meist auch etwas einfacheres, von dem ich weiß, dass es geht. Manche quälen sich auch gerne selber und spielen keine "Literatur für Luschen" (ein Zitat eines mir bekannten begabten Pianisten).
Du siehst - es gibt so viele Ansatzpunkte ...
Oh ja, fünf davon sehe ich jetzt schon. Habe ich was übersehen? Wenn ja, bitte hinzusetzen.