Meine Frage bezieht sich z.B. auf die C und Am (natural) Tonleiter, sowie die Modes: F-Lydian, G-Mixolydian, A-Aeolian, B-Locrian, C-Ionian, D-Dorian, E-Phrygian. Wie unterscheide ich diese, warum nicht alle unter einem Begriff zusammenfassen?
Da du von "Modes" schreibst und die angloamerikanischen Bezeichnungen verwendest (Lydian usw.), gehe ich davon aus, dass du damit nicht die europäischen "Kirchentonarten" meinst, sondern die Begriffe der sogenannten
Chord Scale-Theorie verwendest.
Mir ist durchaus bewusst, dass dies alles verschiedene Rotationen von Tönen sind
Jein - und hier steckt der Denkfehler in Bezug auf die "modes", weil äußerlich ähnliche Erscheinungen (wie "Darstellungen in Tonleiterform") strukturell durchaus unterschiedlich konstruiert sein können.
Im Prinzip können wir
drei unterschiedliche Konstruktionstypen unterscheiden, nämlich die ursprünglich rein melodisch motivierten Tonleiterdarstellungen der "abendländischen (Kirchen)modi", die funktionsharmonisch motivierten Skalen des Dur-Moll-Systems und die Skalen der
Chord Scale-Theorie:
- Das erste und älteste Prinzip beruht auf einer Aufteilung des praktisch verwendeten Tonmaterials ("Gamut") in Vierergruppen (Tetrachorde), die später zu Oktavgattungen (mit zwei Tetrachorden) mit einer jeweils eigenen Charakteristik kombiniert wurden.
- Das zweite Prinzip beruht auf der Dur-Moll-Harmonik und den harmonischen Grundfunktionen Subdominante-Tonika-Dominante (die T liegt hier als tonales Zentrum bewußt in der Mitte).
- Das Prinzip der CS-Theorie beruht hingegen nicht auf harmonischen Beziehungen, sondern auf den Spannungsverhältnissen den Töne im Verhältnis zu einem "Gerüstakkord" - im Jazz wird hier ein Vierklang als Basis vorausgesetzt.
Bei
"Prinzip 1" ergeben sich aus dem zugrundeliegenden heptatonischen (7 Tonschritte bis zur nächsten Oktave) und diatonischen, d.h. aus großen und kleinen Tonschritten bestehenden Material vier Tetrachordtypen: Halbtonschritt am Anfang (e-f g a / h-c d e), Halbtonschritt in der Mitte (d e-f g / a h-c d)), Halbtonschritt am Ende (c d e-f / g a h-c), kein HT-Schritt (f g a h).
Durch Kombination zweier Tetrachorde entstehen die Oktavgattungern der Kirchenmodi, die in der späteren Praxis auf Dur und Moll reduziert wurden. So bestehen z.B. der 1. (Dorisch) und 3. (Phrygisch) "Kirchenton" aus gleich gebauten Tetrachorden (d e-f g + a h-c d = Dorisch, e-f g a + h-c d e = Phrygisch), ebenso wie das historisach spätere Ionisch, aus dem sich unser Dur entwickelt hat (c d e-f + g a h-c).
Die anderen Modi haben unterschiedliche Tetrachorde (z.B. Mixolydisch g a h-c + d e-f g).
Das Material dieser Skalen ist rotierbar, solange der musikalische Bezug zu wichtigen
melodischen Strukturtönen (Grundton, Ausgangston, Zielton usw.) gewahrt bleibt. Innerhalb einer Oktavgattung kann ich jeden Tonleiterausschnitt verwenden (in C-Dur also von C nach c, von D nach d usw.), solange ich den Charakter von C-Dur bewahre (indem ich z.B. am Ende einer Phrase zum Grundton C zurückkehre).
Das
Prinzip 2 geht von der Darstellung der tonalen Hauptfunktionen als Terzkette aus, in C-Dur: S =
f a c + T =
c e g + D =
g h d, als durchgehende Terzreihe
f a c e g h d, in Skalenform notiert als
c d e f g a h (c).
Das sieht zwar wie eine Tonleiter nach "Prinzip 1" aus, ist aber anders gedacht, weil jetzt die Töne immer in Relation zu den
harmonischen Grundfunktionen stehen. Bezogen z.B. auf die Tonika c-e-g sind die Töne c / e / g
akkordeigen, die restlichen Töne d / f / h sind hingegen
akkordfremd, während diese aber bezogen auf den Dominant-Septimakkord g-h-d-f
akkordeigen sind.
Die Töne sind jetzt nicht mehr beliebig rotierbar, weil sie immer im Kontext des jeweils unterliegenden harmonischen Zusammenhangs zu denken sind. So ist z.B. der Ton f als Grundton der S (F-Dur) spannungsfrei, als Septime des G7 hingegen eine "charakteristische" und auflösungsbedürftige Dissonanz.
Das
Prinzip 3 der CS-Theorie beruht auf einem ähnlichen Konstruktionsprinzip (Terzkette), bezieht sich aber auf einen einzelnen Gerüstklang, wodurch die dadurch entstehenden Skalen nicht mehr rotierbar sind.
Dass die CS-Theoretiker hierbei auf kirchenmodale Bezeichnungen zurückgegriffen haben, ist ein ahistorischer Unfug und zum Verstehen des Systems eher hinderlich, weil die "modes" der Akkordskalen rein gar nichts mit den kirchentonalen Modi zu tun haben.
Die 7 Töne dieser "Pseudo-Skalen" werden durch Terzschichtung über einer der sieben Stufen einer Tonleiter erzeugt, der Ansatz ist dabei aber nicht funktionsharmonisch, sondern stufenharmonisch, z.B. auf der II. Stufe: d-f-a-c-e-g-h (1-3-5-7-9-11-13).
Das Gerüst bildet jeweils der Vierklang 1-3-5-7, z.B. D-F-A-C (als Akkord: Dm7). Die Töne 9-11-13 gelten harmonisch als Spannungstöne des Gerüstakkords (die gelegentlich mit der 11 verbundenen Probleme können hier unberücksichtigt bleiben). Um diese Töne melodisch nutzen und innerhalb einer Oktavskala darstellen zu können, werden sie abwärts oktaviert (zu 2-4-6), so dass es sich bei der nunmehr skalenartigen Darstellung eigentlich um zwei auf den Oktavraum komprimierte Terzstrukturen handelt: D-F-A-C + e-g-h = D e F g A h C [d] (d.h. "dorian mode" im Chord Scale-Kauderwelsch).
Die sieben Akkordskalen im sogenannten "Ionischen System" sind also keine Rotationen einer diatonischen Skala, bei denen sich nur die Position, nicht aber die Funktion eines Tones ändert, sondern entsprechen den sieben
Akkordstufen der Dur-Skala. Unterscheidungskriterium ist hier also die Struktur des jeweiligen Gerüstklanges im Verhätnis zu den verbleibenden Spannungstönen, womit sich die Funktion der Töne je nach
mode ändert.
Das kann man bereits an zwei Tönen, z.B. C und D in der Tonart C-Dur verdeutlichen:
So ist
C im
ionian mode von C-Dur Grundton eines C maj7-Akkords (c-e-g-h), D ist hingegen als 2 ein akkordfremder
Melodieton (den man z.B. als Durchgangston von C nach E oder als oberer Vorhalt vor C oder als obere bzw. untere Wechselnote zu C bzw. E verwenden kann), bzw. als 9 ein
harmonischer Spannungston, mit dem man den C maj7 zu einem C maj7/9 ergänzen kann.
Im
dorian mode von C-Dur haben C und D hingegen andere Funktionen, weil der Gerüstklang jetzt ein Dm7 (d-f-a-c) ist. Beide Töne sind jetzt im Gerüstklang enthalten (d als Grundton, c als 7), also relativ spannungslos bzw. spannungsarm.
Was es also zu trainieren gilt, ist das Nachempfinden des jeweiligen Spannungsverhältnisses von Skalentönen in Relation zum jeweilen "mode". Der ebenso fatale wie weitverbreitete Denkfehler liegt in der Verwechslung der rein theoretischen Akkordskalen-Darstellung mit real erklingenden skalenförmigen Tonfolgen. Die Akkordskala im
ionian mode von C nach c ist keine andere Bezeichnung für eine C-Dur-Tonleiter, sondern ein völlig anderes Konzept! Tonleitergenudel und Halbwissen der Kategorie "C nach c" ist
ionian, D nach d ist
dorian (usw.)" ist also völlig kontraproduktiv und geht am Kern der Sache vorbei.
wenn ich jemandem Kirchentonarten beibringen würde ...
... wäre er anschließend genauso schlau, wie vorher, weil die von dir beschriebene Vorgehensweise rein gar nichts mit den "Kirchentonarten" zu tun hat. Nochmal zum Mitschreiben: CS-Modes sind keine Kirchentonarten, und Kirchentonarten sind in ihrem eigentlichen Wesen keine Skalen, sondern Melodiemodelle.