Meine triviale Annahme war, dass wenn man gelernt hat, die Aufmerksamkeit gezielt zu lenken, das bei jedem Stück einfach geht.
Ich dachte, irgendwann hat sich das Hirn so umgebaut, dass die Fokusierung besser und schneller geht.
Au Mann, heute morgen kam die Erlösung. Die Annahme von mir ist einfach falsch.
Drauf gekommen bin ich, als ich zwei Bach-Inventionen spielerisch miteinander verglichen habe. Sie laufen unterschiedlich gut, weil ich sie unterschiedlich lange übe. Dabei fiel mir auf, dass es bei einem Stück, das ich länger spiele, einfach ist, mit der Aufmerksamkeit zwischen den Manualen hin und her zu wechseln. Warum ist das so? Weil ich das Stück KENNE - kennen heißt, das man nicht nur weiß, wie es klingt, sondern auch aktiv am Instrument spielen kann.
Dann wurde mir klar, dass es zwei verschiedene Formen von Hören gibt: Einerseits den Konsum - man hört einfach alles, was sich so abspielt, fokusiert sich auf nichts und vergisst logischerweise sofort wieder das meiste davon. Wenn ich z.B. durch die Fußgängerzone schlendere, höre ich viel, ignoriere aber, was gesagt wird und kann hinterher nichts dazu sagen. Andererseits gibt es das aktive Hören. Das ist immer so, wenn man sich auf eine Hörquelle ausrichtet. Dieser Vorgang ist aktiv, weil ich jetzt mein Hirn aktiv einsetzen muss. Will ich bei einem Gespräch verstehen, was gesagt wird, muss ich die Sprache und ihre Regeln kennen. Ich vergleiche die Sätze mit dem Gesichtsausdruck und gucke, ob die Frau, mit der ich gerade quatsche, ironisch drauf ist und die Wörter damit eine völlig andere Bedeutung kriegen.
Was hat das mit dem Akko-Spielen zu tun? Es ist völlig abwegig, ein Stück, in dem man nicht beheimatet ist, die Aufmerksamkeit
sofort gezielt zu lenken. Es braucht Zeit, bis man es kennt. Man muss es haptisch üben, bis man ein Vorverständnis von dem Stück hat. Dann erschließen sich weitere Details und man kann dann dort tätig werden. Uwe hatte natürlich Recht:
Das Gefühl dafür stellt ich erst langsam ein
Bestimmte Dinge müssen unbewusst werden, um eine andere Sache beobachten zu können.
Wenn das so ist, verstehe ich nun, warum ich "nur" praktische Tipps bekommen habe, ein polyphones Stück zu lernen. Freilich hatten es diese praktischen Tipps in sich, aber das habe ich ja schon gesagt. Bei meinen nächsten Inventionen möchte ich so vorgehen:
1. Zunächst einmal isoliere ich im Notentext die Motive.
2. Dann spiele ich die Motive im Diskant und im Melodiebass unisono - in allen Tonarten, in denen sie vorkommen, bis ich sie auswendig kann (ohne Noten).
3. Dann kommt dasselbe noch einmal alleine im Melodiebass und im Diskant.
4. Danach wechsele ich in den Notentext und spiele diagonal immer nur die Motive, die vorkommen und lasse den Rest weg.
5. Dann übe ich beide Manuale zusammen abschnittsweise - also bis ein notwendiger Einschnitt im Notentext kommt (Tonika oder Dominantschluss).
6. Schritt 5 auswendig.
7. (5) und (6) werden beim nächsten Abschnitt angewandt. Der erste Abschnitt wird wenn überhaupt nur kurz wiederholt, damit sich die Übezeit gleichmäßig auf alle Takte verteilt.
8. Zusammensetzen der Abschnitte.
9. Auswendiglernen der Abschnitte.
10. Jetzt sollte ich das Voraussetzungen für das aktive Hören haben. Ich kann jetzt die einzelnen Motive bewusst hören und gestalten.
Sorry für eure Mühe.
Vielen Dank für eure Vorschläge.
Ich hatte einfach nicht begriffen, dass Hören nicht gleich Hören ist. War einfach zu dumm und wollte Sachen, die nicht gehen.