Das beobachtete Phänomen, dass sich der 4. und 5. Finger nicht bzw. nur unvollkommen unabhängig voneinander beugen und strecken lassen, ist eher normal und es findet sich bei vielen Menschen. Dabei ist die Variabilität sehr groß: Es gibt dabei die ganze Bandbreite von einer praktisch völligen Unabhängigkeit bis hin zu einer praktisch vollständigen Kopplung.
Der Grund liegt in den Sehnenscheiden der Fingersehnen. Während sich die Sehnen von Zeige- und Mittelfinger über ihre Sehnenscheiden so gut wie nicht in die Quere kommen, sind typischerweise die Sehnenscheiden des 4. und 5. Fingers in einem gewissen Grad verbunden. Und genau in diesem "in einem gewissen Grad" liegt die Krux, denn auch wenn der Aufbau der Hand bei allen Menschen prinzipiell gleich ist, findet sich anatomisch eine große Variabilität im Bereich dieser Weichteilstrukturen. Die Sehnenscheidenplatte von 4. und 5. Finger kann sich schon früh trennen (große Unabhängigkeit) oder erst kurz vor den Fingergrundgelenken (geringe Unabhängigkeit).
In dieser (allgemeinen) Grafik die ich im Internet dazu gefunden habe, habe ich den betreffenden Bereich mit einem Pfeil markiert:
Normalerweise ist dieses Verhalten bei beiden Händen gleich, mindestens in etwa, denn auch diese Symmetrie ist nicht selten variabel.
Dass bei dir,
@DeviantBlues, die Unabhängigkeit nur bei der linken Hand so stark eingeschränkt ist, jedenfalls deutlich stärker als rechts, kann gut mit deiner früheren Verletzung zusammen hängen. Denn das Gewebe hat die Eigenschaft, nach Verletzungen bei der Verheilung sich an den lädierten Stellen zu verdicken und verstärken. Bei Knochen sieht man daher später im Röntgenbild die zusammengewachsene Stelle noch gut als leichte Verdickung.
Dehnübungen können helfen, müssen aber mit großer Sorgfalt und gut dosiert gemacht und dürfen nicht übertrieben werden. Denn auch Dehnen (vor allem falsches oder übertriebenes!) kann das Gewebe belasten, und auf diese Belastung reagiert das Gewebe (Sehnen/Muskeln) leider auch schon mal mit einer Art "Gegenreaktion" indem es kompakter und fester wird. Daraus resultiert schlussendlich dummerweise wieder eine Bewegungseinschränkung wo doch ein Freimachen beabsichtigt war.
In der Spieltechnik muss auf diese Einschränkung umsichtig eingegangen werden, indem stets intensiv auf die Leichtigkeit der Bewegungen geachtet wird. Da sich das Mitbewegen aus den genannten anatomischen Gründen nicht unterdrücken lässt, muss es so in die Spieltechnik mit einbezogen werden, dass es immer dort zugelassen wird, wo es nicht stört. Die Finger müssen immer wieder in die Lockerheit zurück finden wenn sie von den Saiten abgehoben werden. Üblicherweise versuchen alle, denen die Finger sozusagen "nicht gehorchen" wollen, sie mit mehr Kraft zu bewegen und zu drücken, ihnen die Bewegung und das Halten regelrecht aufzuzwingen. Das ist aber ein Teufelskreis, denn so wird das Spielen immer fester und unflexibler. Der zu hohe Krafteinsatz verursacht irgendwann bei den meisten auch Schmerzsymptome mit der fatalen Folge, dass letztlich ein Spielen mit Freude nicht mehr möglich ist (schlimmstenfalls sogar gar nicht mehr).
Mit wenigen Sätzen in einem Post kann ich das ´gute Bewegen´ natürlich nur ganz grob skizzieren und nicht näher ins Detail gehen. Hier sind der Gitarrenlehrer/die Gitarrenlehrerin zuvorderst gefragt. Mediziner und Physiotherapeuten können oft nicht wirklich helfen weil, sie von der Spieltechnik und Spielmotorik im Detail zu wenig Ahnung haben, wenn überhaupt (wenn sie nicht selber zufällig profunde Kenntnisse des betreffenden Instruments und seiner Motorik haben). Im besten Fall bekommst du einige gute Übungen zum Lockern und Dehnen gezeigt nebst sorgfältiger Anleitung dazu - was aber durchaus eine gute Sache und hilfreich sein kann. Vielleicht reicht das sogar schon, damit du das Problem im nötigen Maß überwinden kannst.
Eine sehr spezielle Form der Abhilfe will ich der Vollständigkeit halber noch erwähnen. Ich hatte die Gelegenheit, bei G.O. van de Klashorst (1927-2017) eine Fortbildung zum "Musiker-Dispokinesiopaeden" zu machen und danach noch Gelegenheit bei ihm noch eine Weile zu assistieren. Van de Klashorst war der Begründer des Fachs "Dispokinesis" (zusammengesetzt aus "disponere" und "kinesis" was "Verfügen über seine Haltung und Bewegung" bedeuten soll) in dem es sehr profund um die Grundlagen von Haltung und Bewegung beim Musizieren geht und der Vorgehensweise, wie beides in guter Weise entwickelt, entlockt und wach gehalten werden kann. Aus nahe liegenden Gründen stand dabei dabei auch immer wieder die Überwindung von Fehl-Haltungen und Fehl-Bewegungsstereotypen im Mittelpunkt. Das Thema der möglichst großen Unabhängigkeit der Finger und der Feinmotorik von Hand und Fingern war sowieso eines der Hauptanliegen - werden doch alle Instrumente durch feinmotorische Bewegungen zum Klingen gebracht, bzw. erst zur vollen Entfaltung ihres Klangs und des musikalischen Ausdrucks gebracht.
Van de Klashorst berichtete in dem Zusammenhang von einigen Fällen wo Profimusikern (in den mir bekannten Fällen waren es Orchestergeiger) ein ähnliches Problem hatten. Dabei wurde auch eine sehr ausgeprägte Verwachsung der Sehnenplatte vom 4. und 5. Finger festgestellt.
In jüngeren Jahren hatten die Betreffenden noch keine Probleme damit, aber die Gewebe haben die natürliche Tendenz, beim normalen Alterungsprozess immer noch ein wenig kompakter zu werden (ausgewachsen sind Knochen, Gelenke und Sehnen ohnehin erst etwa Mitte der 20-er Lebensjahre, da haben die Profi-Orchestermusiker in der Regel schon eine feste Stelle im Orchester).
Van de Klashorst hat damals mit Handchirurgen aus Amsterdam zusammen gearbeitet und die haben in diesen speziellen Fällen die Sehnenplatte (in etwa an der Stelle wo in der Grafik der Pfeil hinzeigt) ein wenig eingeschnitten, so dass sie sie sich früher auftrennte. Der Eingriff ist minimal und wurde ambulant durchgeführt. Im weiteren hat Klashorst mit den Geigern noch an der Feinmotorik gearbeitet und sie konnten danach ohne Beschwerden ihren Beruf weiter ausüben.
Da es in den beschriebenene Fällen um Profis ging denen die Berufsunfähigkeit drohte, wurden die Kosten von den Krankenkassen übernommen. Bei Amateuren wird das eher nicht der Fall sein.
Ich habe die Fälle deshalb nur beschrieben, um den Sachverhalt und dessen Komplexität noch weiter auszuleuchten.
Ich wünsche dir ein gutes Gelingen beim Überwinden deiner Spielproblematik!