Abgesehen davon haben auch diese Leute nicht zu den Zeiten der Komponisten gelebt und können insofern auch nur vermuten.
Das stimmt. Ich denke, dass jeder Musiker die "künstlerische Freiheit" haben sollte, selbst entscheiden zu dürfen, welchen "Weg" er gehen möchte. Manche treffen für sich die Entscheidung, sich einem Werk möglichst historisch korrekt zu nähern, andere widerum wollen etwas anderes versuchen. Nur innerhalb einer Ausbildung sollte es Vorgaben geben.
Da ich mich mit Orgel und Kirchenmusik (Bach sowieso) momentan sehr intensiv auseinandersetze, sehe ich es irgendwo auch als meine "Pflicht" an, mich einem Werk möglichst universal zu nähern. Nicht nur, dass es interessant ist, zu wissen, wie barocke Werke damals dynamisch aufgebaut wurden, so kann es einen Menschen/Musiker auch auf vielen anderen Ebenen weiter bringen...weil es hilft, den Horizont zu erweitern. Was, meiner Ansicht nach, in jeder Kunstform, nicht nur in der Musik, wichtig ist: nicht engstirnig, sondern möglichst offen für vieles zu sein, sich immer wieder neu auszuprobieren...und dann aber irgendwann auch "seinen Stil" zu finden.
Ich mache deshalb momentan beides: schaue mir den barocken Bach an und versuche, mich einem seiner Werke möglichst so zu nähern (ob an der Orgel, am Cembalo, oder im Gesang/Chor), dass es dem, wie es damals vielleicht geklungen haben mag, möglichst nahe kommt.
Da mir aber die "barocke Spielweise" nicht gefällt (und da kann man mir noch so oft sagen: passt nicht, ist falsch, darf man nicht, hört sich "nicht schön" an), gehe ich trotzdem auch meinen Weg und schaue, was mir persönlich zusagt, welche Schwerpunkte ich setzen will, wo ich Tiefen hervorheben und Weite erzeugen will. Denn das ist ein Punkt der mir persönlich ganz besonders (!) gefällt: wenn ich eine Orgelpartitur zB. vor mir liegen habe, ich mich mit dem Stück zuerst technisch auseinandersetze (Fingersatz aufschreibe, mich durch alle Manual-und Pedalstimmen arbeite) und DANN beginnen darf, mich eigenständig und ohne Vorgaben durch das Stück führen zu lassen. Irgendwann kennt man ja ein Stück in- und auswendig und ich weiß dann zB. sofort, wo es "leiser" oder "lauter" werden muss, ob ich die Töne im legato spielen möchte, oder nicht, usw. usf. Diesen ganzen Prozess BRAUCHE ich wie die Luft zum Atmen... und würde es sehr vermissen, dürfte ich das "nicht mehr tun"... mit der Gefahr inklusive ein Werk dann ganz anders zu spielen (oder zu singen), wie es damals vielleicht geklungen haben mag.
Im Unterricht bekomme ich zum Glück Raum für beides. Mein Orgellehrer berichtigt mich zwar immer, aber er lässt mich auch machen, erklärt mir mit einer Engelsgeduld, wie ein barockes Werk "eigentlich zu spielen ist" (möglicherweise, vielleicht... sind auch seine Worte, denn sicher kann man sich eh nie sein), aber ich darf mich auch ausprobieren. Manchmal hat er das letzte Wort, manchmal ich
Im Gesang ist es schon ein wenig lockerer, hab ich die Erfahrung gemacht... solistisch. Da kann man sich etwas mehr einbringen.