Trotzdem ist das 100%ige Übertragen von Piano-Notation in Verbindung mit allem vom Piano Gewohnten auf Rock-/Popmusik, gerade wenn Synthesizer zum Einsatz kommen, schwierig. Noch schwieriger ist es, da einen Konsens zu finden, der eine möglichst gute Reproduktion des Originals bei gleichzeitiger Spielbarkeit für einen Konzertpianisten darstellt.
Deine Ausführungen finde ich sehr interessant, weil sie von viel Detailkenntnis zeugen und du dir eine Menge Gedanken machst. Andererseits stellst du die Extreme zweier Welten gegenüber (ein ausgefeiltes Toto-Synth-Solo und einen rein klassisch denkenden Pianisten), und hast dann am Ende Noten mit zehn und mehr Systemen gleichzeitig. Letztlich zeigst du dadurch, dass die Kombination der Extreme zweier Welten widersinnig ist und nicht praktikabel funktionieren kann. Schon gar nicht auf der Bühne unter Live-Bedingungen.
Da ist es gut, dass der durchschnittliche Live-Keyboarder weder ein rein klassisch ausgebildeter Spieler ist (und wenn er's ist, wird er nach der ersten Probe umdenken lernen müssen), noch im Regelfall mit dem Anspruch maximaler Authentizität auf die Bühne geht. Die Praxis spielt sich glücklicherweise zwischen den Extremen ab - denn, wie du ja auch gezeigt hast, führen extreme einseitige Haltungen in der Kombination zu Widersprüchen. Deswegen macht es, wenn man praxistauglich Musik machen will, keinen Sinn, in Extrempositionen zu verharren.
Ich spiele Keyboards in prof.Musicals und habe da ständig damit zu tun, wie Noten dort aussehen. Da geht es halt nicht um eine Transkription eines Chart-Titels, es ist also eine etwas andere Ausgangslage als beim Threadersteller. Aber es geht darum, mit welchen Taktiken Keyboards möglichst praxistauglich, eindeutig und betriebssicher notiert werden können.
Grundsätzlich ist ja die gegriffene Tonhöhe von der klingenden unabhängig, im Gegensatz zum Klavier. Sounds können Oktavtranspositionen beinhalten, und dann ist der Arrangeur bzw. Notensetzer schon in der Situation entscheiden zu müssen, ob denn nun die gegriffene oder die klingende Tonhöhe aufgeschrieben wird. Meist macht es mehr Sinn, die gegriffene Tonhöhe zu notieren, weil der Spieler i.d.R. bei einer gesehenen Note in erster Linie eine gegriffene Taste assoziiert. Wenn die klingende Tonhöhe aufgeschrieben würde, müsste der Spieler ja die Oktavtranspositionen auswendig kennen, um die zu greifende Taste zu folgern. Das wäre Quatsch. Also wird die zu greifende Tonhöhe notiert, und schon ist das Keyboard ein transponierendes Instrument wie viele andere Orchesterinstrumente auch.
Die nächste Überlegung ist, wie man mehrere Tastaturen notiert. Ich habe schon Spielanweisungen gesehen wie "oben", "unten", "XP-80" oder "Piano" - das
kann klappen, aber wenn der erste Ersatzspieler die Begriffe sieht, muss er erstmal zuordnen. Man könnte auch von einer Klavierakkolade das obere Notensystem fürs obere Keyboard nehmen, das untere fürs untere. Dann ist aber immer noch nicht klar, welche Hand auf welchem Keyboard spielt - dazu braucht man weitere Anweisungen: "l.H." und "r.H.". Auch wenn beide Hände hin- und herspringen, oder wenn zwischendurch Klavier auf dem unteren Keyboard mit beiden Händen (also l.H. im Baßschlüssel) gespielt werden soll, stößt das System an seine Grenzen. Dann können 4 Systeme, also zwei Klavierakkoladen, durchaus Sinn machen. So komplizierte Situationen kommen aber kaum vor. Ich habe auch schon Farben gesehen: roter Textmarker für unten, grüner Textmarker für oben.
Martman schreibt noch, dass es keine standardisierte Notation für Parameteränderungen gibt. Klar, das stimmt, aber da kann man sich was einfallen lassen, um es eben doch möglich zu machen: Wellenlinien wie für Triller für Modwheel-Bewegungen, Glissando-Linien für Pitch-Bend, und eben Textanweisungen für alles mögliche. Hier ist die Frage vor allem, wie genau etwas notiert werden soll bzw. muss: wenn man Livemusiker beschäftigt, will man ja keine maschinelle Genauigkeit als Resultat haben. Die Musiker wollen und sollen einen Entscheidungsspielraum für die konkrete Ausführung des Parts haben.
Noten sind ja nur oberflächlich genau bzw. sind nur oberflächlich enge Vorgaben: in Wahrheit stellen sie einen
Handlungsspielraum dar. Und gerade bei solchen schwer notierbaren Instrumenten wie Keyboard ist der Entscheidungsspielraum dann eben schon mal groß.
Harald