Hallo und erstmal sorry, ich weiß, dass das hier ein uralter Thread ist, aber ich diskutierte das Thema gerade mit einem Bekannten, da demnächst ein Kauf ansteht und eine Googlesuche über die Unterschiede zwischen Flügel und Klavier bringt den als einen der ersten Treffer und daher denke ich, dass sich immernoch mal wieder Leute hierher verirren und wollte die Antworten etwas komplettieren.
Oben hat jemand gesagt, Klavier sei der Oberbegriff und Klaviere würden sich aufteilen in Flügel und Pianos (die Aufrechten). Das ist so nicht ganz richtig. Klavier und Piano bedeutet erstmal das gleiche und ist der Überbegriff. Das waagerechte Klavier/Piano nennt man im deutschen Flügel und im englischen grand piano, das senkrechte Klavier/Piano nennt man im deutschen Pianino und im englischen upright piano. Jeder Flügel ist also ein Klavier und jedes Pianino ist ebenfalls ein Klavier. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich aber tatsächlich eingebürgert, Pianinos als Klaviere zu bezeichnen und Flügel schlicht als Flügel. Und so will ich es im Folgenden auch halten; wenn ich von einem Klavier rede, dann meine ich das senkrechte Instrument.
Folgende Punkte habe ich hinzuzufügen:
1.
Grundsätzlich wird der Klang im Instrument dadurch erzeugt, dass die Schwingung der Saiten über den Steg auf den Resonanzboden übertragen werden. Das funktioniert genau wie bei Gitarren und Geigen. Der Resonanzboden schwingt dann und macht die Saitenschwingung erst hörbar. Je größter der Resonanzboden und je besser er abstrahlen kann, desto besser und voluminöser der Klang. Es ist sicherlich klar, dass ein 2,70m langer Konzertflügel einen gigantisch großen Resonanzboden hat verglichen mit einem 1,30m hohen Klavier. ABER ein 1,40m langer Stutzflügel hat wiederung einen deutlich kleineren Resonanzboden als das 1,30m hohe Klavier, denn beim Flügel muss man von der Länge ja noch ca. 30cm für die Klaviatur abziehen. Entsprechend sind auch die Basssaiten eines großen Klaviers länger als bei einem kleinen Flügel.
Daraus folgt, dass ein sehr großes Klavier sehr wohl besser klingen kann als ein kleiner Flügel. Da gibt es aber noch ein aber. Denn es kommt nicht nur auf die schwingende Fläche des Resonanzbodens an sondern auch darauf, wie der abstrahlen kann. Ein Flügel ist an seinem Boden offen, wenn man von unten reinschaut, sieht man den Resonanzboden, der über die gesamte Unterfläche abstrahlen kann. Außerdem kann man den Flügel öffnen, dann kann der Resonanzboden auch noch oben Schall abstrahlen. Bei einem Klavier hingegen ist die Vorderseite zu, das dämpft den Klang. Die Hinterseite, also die einzige Seite, zu der das Instrument wirklich abstrahlen kann, steht meistens zur Wand, so dass der Schall auch da gedämpft wird. Um den Klangvorteil des großen Klavieres gegenüber dem kleinen Flügel also wirklich zu nutzen, müsste man erstens die Vorderseite des Klavieres öffnen (das macht aber kaum einer) und zweitens darf man das Instrument nicht an die Wand stellen sondern muss es wirklich in den Raum stellen. Dann - und wirklich nur dann - kann ein großes Klavier sein volles Klangpotential entfallten. Ein kleiner Flügel hingegen kann das immer. Und daher klingen auch kleine Flügel meistens etwas besser als große Klaviere.
2.
Die Mechanik des Flügels ist deutlich überlegen. Hier gibt es zwei Unterpunkte:
2a.
Beim Klavier schlagen die Hämmer auf eine senkrechte Saite und müssen dann mit komplizierten Mechaniken zurückgezogen werden. Der Hammer wird eigentlich nur im ersten Drittel seines Weges wirklich durch die Taste beschleunigt, danach saust er durch seine Massenträgheit weiter, das heißt nur im ersten Drittel kann man den Anschlag wirklich kontrollieren. NAch dem Anschlag wird er durch die MEchanik zurückgezogen und die Taste muss komplett losgelassen werden und komplett nach oben kommen, ehe man sie erneut spielen kann. Bei einem Flügel schlagen die Hämmer von unten an die Saite. Der steuerbare Weg ist deutlich länger und nach dem Anschlag fallen sie von ganz alleine auf Grund ihres Gewichtes zurück. Außerdem ist die MEchanik so ausgelegt, dass die Taste nicht komplett losgelassen werden muss. Es reicht schon, wenn man sie nur etwa halb hochkommen lässt und dann kann man schon erneut anschlagen. Entsprechend ist die Repetitionsfähigkeit, also die Zahl der möglichen Anschläge pro Sekunde deutlich höher als beim Klavier. Bei einer gut justierten Flügelmechanik kann man ohne weiteres ein und die gleiche Taste 10 bis 12 mal pro Sekunde anschlagen, ehe Töne "verschluckt" werden. Bei einem Klavier gehen selten mehr als 6 Anschläge pro Sekunde.
Das ist schon durchaus relevant, Scalatti hatte z.B. Sonaten geschrieben, in denen man unheimlich schnell repetieren muss. Das hier wäre auf vielen Klavieren praktisch unspielbar, kann aber auf praktisch jedem gut eingestellten Flügel gespielt werden:
Noch mal ganz deutlich, es geht nicht um die Geschwindigkeit bei Läufen sondern wirklich um die bereits in der ersten Sekunde dieses Stückes hörbare extrem schnelle Wiederholung ein und des selben Tones.
2b.
Die Tastenlänge des Klavieres ist sehr viel kürzer als beim Flügel. Damit meine ich nicht den sichtbaren Teil sondern die Gesamtlänge der Tasten, also vom Ende der Taste bis zum Drehpunkt. Die Taste ist im Grunde ein Hebel und wie jeder Hebel hat sie einen Drehpunkt. Bei einem Klavier, das ja nicht sehr tief baut, ist der Drehpunkt der Taste vielleicht 5cm hinter der Frontblende, der sichtbare Teil ist ca. 12cm lang (nur Schätzwerte), der eigentliche Hebel also knapp 17cm. Bei einem Flügel ist der Drehpunkt aber auch gerne mal 15 oder 20cm oder sogar noch weiter hinter der Blende, da kommt man dann auf Hebellängen von 25, 30cm oder bei richtig großen Konzertflügeln vielleicht sogar noch mehr. Das Tastengewicht, also die KRaft, mit der man die Taste belasten muss um sie zu drücken, wird an ihrer Spitze gemessen und Klaviere und Flügel können da natürlich gleich eingestellt werden.
Was nun aber, wenn man garnicht da drückt. Wer mal in Tonleitern mit vielen schwarzen Tasten spielt weiß, dass man die weißen Tasten oft nicht vorne in ihrem freien Bereich drücken kann sondern dass man recht weit hinten, zwischen den schwarzen Tasten, auf die weißen drücken muss. Damit kommt man mit seiner Spielposition nun näher an den Drehpunkt des Tastenhebels. Bei einem Klavier, mit seinem kürzeren Hebel, muss man nun, wenn man also weiter hinten auf eine weiße Taste drückt, deutlich fester drücken als wenn man vorne spielen würde, gleichzeitig kann man die Taste nicht mehr so weit eindrücken. Wenn man vorne spiel, kann man mit 50g Gewicht spielen und die Taste 12mm tief drücken, spielt man hinten muss man für den gleichen Ton 80 oder 90g aufbringen und die Taste nur 7mm tief eindrücken. Das macht das Spiel vorne und hinten ungleichmäßig und ein präzises Dosieren der Spielstärke schwierig.
Bei einem Flügel tritt das natürlich prinzipiell ebenfalls auf. Aber es leuchtet sicherlich ein, dass der Effekt viel geringer ist. Beim Klavier verkürzt man die Hebellänge von 17cm auf 6cm, also gut und gerne um 60 oder noch mehr PRozent, beim Flügel nur von 25cm auf 15cm, also nur um 40%. Das macht gleichmäßiges Spiel VIEL leichter. Entsprechend muss man beim Klavier 60% mehr Kraft aufbringen, wenn man statt vorne weit hinten spielt und beim Flügel nur 40%
Bei Digitalklavieren ist der Effekt sogar noch viel, viel ausgeprägter, da ist der Drehpunkt der Taste oft schon nur 3 oder 4 cm hinter dem Spielbaren bereich, da kann es dann gleich passieren, dass man vorne 50g und 12mm hat und hinten 120g und 4mm.
Hier sieht man schön die unterschiedlichen Tastenlängen der Mechaniken:
Digital
https://www.pianosolo.it/wp-content/uploads/2016/02/TP40-640x438.jpg
Klavier:
https://www.pianos.de/UserFiles/Image/das_instrument/spielwerke/gesamtansicht_pianospielwerk.jpg
Flügel
http://www.shackellpianos.co.uk/images/grand-action.jpg
Bei Klavier und Flügel ist der Drehpunkt deutlich zu sehen, es ist der erste Auflagepunkt der Taste. Beim Digitalen sieht man ihn nicht, aber die Gesamtlänge zeigt schon: Der ist höchstens einen Zentimeter hinter dem sichtbaren Bereich der Taste. Bei diesen Mechaniken ist der Hebel also beim digitalen nur knapp 1cm länger als die Taste, beim Klavier geschätzt 6 oder 7cm und beim dieser Flügelmechanik mindestens 12cm.
Und das war es dann auch. Zusammenfassend kann man sagen, dass ein Flügel konstruktiv die bessere Instrumentenform ist. Gleiche Bauqualität voraussetzend (bitte vergleicht nicht ein großes C. Bechstein Klavier für 30.000EUR mit einem chinesischen Stutzflügel für 8.000EUR) ist auch ein kleiner Flügel gemeinhin einem großen Klavier spieltechnisch vorzuziehen und er wird auch besser klingen, es sei denn ihr stellt das Klavier mitten in den Raum und nehmt die Frontblenden ab.