Interpretation klassischer Stücke (z.B. Die Vier Jahreszeiten)

  • Ersteller nightflight
  • Erstellt am
nightflight
nightflight
Registrierter Benutzer
Zuletzt hier
23.01.09
Registriert
12.02.08
Beiträge
132
Kekse
218
Hallo,

ich hab vor mich zunehmend intensiver mit klassischer Musik (also nicht Epoche, sonder allgemein Klassik) zu beschäftigen, hab momentan aber noch wenig durchblick.
Was mich interessieren würde, und wo ich noch keine Antwort drauf gefunden habe, ist wie man klassische Stücke interpretiert?

Also am Beispiel der Vier Jahreszeiten (von Vivaldi, interpretiert von Federico Agostini): Ich hab mal diesen Artikel gelesen und diese Themen und Motive (also schlafender Hirte, Vogelgezwitscher, Sturm etc. hab ich dann mit Hilfe des Artikels tatsächlich "gefunden" und gehört).
Wie aber kommen andere auf solche Ideen, also woher weiß man, dass Vivaldi hiermit einen bellenden Hund vertonen wollte; könnte ja genauso etwas anderes sein...? Oder hat Vivaldi das schon zu seiner Zeit aufgeschrieben, welche Motive und Themen wann vorkommen? Oder wer bestimmt und interpretiert das?
 
Eigenschaft
 
Du meinst die außermusikalischen bezüge, die einer komposition zugrunde liegen können, sei es als eigenes oder angelesenes erlebnis. Die sind sehr vielfältig und werden von den meisten komponisten geheimgehalten. Wenn Janacek ein streichquartett "Intime briefe" nennt, will er damit nicht auf eine bestimmte, bestehende außereheliche beziehung hinweisen, sonder eine gefühlswelt andeuten, Tschaikowsky hütete sich, seine damals noch strafbaren homo-erotischen neigungen preiszugeben, mit musik setzte er sich damit auseinander.
Da das eines meiner lieblingsthemen ist, findest du hier reichliche lektüre dazu, etwa über Beethoven. Lies, dann reden wir weiter.

https://www.musiker-board.de/vb/klassik/116069-mondschein.html
 
Ich kenne die Partituren nicht, aber damals war das nicht üblich seine Musik so sehr zu beschreiben. Das kam imho alles erst bisschen in der Klassik und später vor allem mit Schumann und Mahler in der (Spät)romantik auf, dass man solche konkreten Kommentare hineinschrieb
 
Es gab schon Kuhnaus (1660-1722) "Biblische Historien", er war Bachs vorgänger als Thomaskantor, viel programmatisches gibt es noch früher bei Monteverdi, außermusikalische, sogar mathematische vorstellungen ziehen sich als roter faden durch die musikgeschichte, affektenlehre ist ein gutes stichwort. Der begriff "Programmmusik" wurde allerdings erst im 19.jh. geprägt und von Berlioz und der "Neudeutschen Schule" umgesetzt.
An den dunklen untergrund schöpferischen tuns, an pathologisches, materielle und seelische not, tiefe tragik und drogen wollen wir nicht rühren, das alles floss aber in die musik ein. Es gibt literatur vom medizinischen standpunkt aus, vieles wurde von frühen biographen schamhaft verschwiegen, aus früheren epochen wissen wir über komponisten fast nichts, selbst von Bach mehr anekdotisches als belegbares. Haydn war der etwas zopfige "papà", Mozart wurde als "götterjüngling", Beethoven als "titan", Schubert als weinseliges "schwammerl" beschrieben, das hatte mit ihrer realität nichts zu tun, fröhliche, unbeschwerte, sorgenfreie menschen waren die meisten komponisten gewiss nicht.
"Doktor Faustus" von Thomas Mann schneidet das thema an, "Verdi" von Franz Werfel auch.

Zurück zu "interpretation": ein werk ist unter bestimmten umständen entstanden, drückt über den notentext hinaus etwas aus, nennen wir es stimmung oder inhalt, wobei musik vieldeutiger und tiefgründiger ist als worte; als mittler muss ich das erfassen, dazu gehört auch wissen, und soweit möglich an meine hörer übertragen, und wenn sie davon, zumindest unbewusst ergriffen sind, habe ich gut gespielt, und die anderen haben gut zugehört. Ohne geheimen rapport geht es nicht.
Beethoven schrieb in die partitur seiner "Missa solemnis": "von herzen - - möge es zu herzen gehen!" Schaljapin hatte einen anderen vergleich, aber den habe ich anderweitig zitiert.
 
Die Frage, inwiefern man mit Musik außermusikalische Dinge darstellen kann, ohne dass der Hörer durch Überschriften oder Erläuterungen zur Interpretation auf die Spur gebracht wird, ist problematisch. Sicherlich kann Musik in begrenztem Umfang Außermusikalisches darstellen, wie z.B. die Nachahmung von Tierstimmen ( H.I.F. Biber in einer Sonate für Solovioline mit begleitendem Tasteninstrument, bereits aus dem 17. Jahrhundert), aber kann Musik auch Bilder malen oder Geschichten erzählen???
"Biblische Historien" von Kuhnau sind ein gutes Beispiel: In der Cembalosonate "Der Streit zwischen David und Goliath" betitelt der Komponist z.B.: Das Zittern der Israeliten..., Die Herzhaftigkeit Davids, seine Begierde....
Würde der Zuhörer diese Vorstellungen beim Hören der Musik entwickeln ohne die Überschriften von Kuhnau zu kennen???
Beethoven notierte zu seiner 6.Sinfonie: "...Mehr Ausdruck der Empfindung als Tonmalerei..."
Erst als im 19. Jahrhundert Programmmusik als Begriff entwickelt wurde, gab es die Kontroverse zwischen den Befürwortern von Programmmusik und deren Gegnern.
Der mächtige Musikwissenschaftler und Musikkritiker Eduard Hanslick verneinte die Existenz der Programmmusik, Musik sei nichts anderes als "...tönend bewegte Form.."
Auch das ist eine radikale Anschauung.
Dass Musik Stimmungen, Gefühle auslösen kann ist unbestritten.
Sehr wichtig für die Interpretation ist es, sich mit den zur Verfügung stehenden Quellen über den jeweiligen Komponisten und seine Werke auseinanderzusetzen.
Das ist heute leichter denn je und da muss ich Günter beipflichten.
Beste Grüße
Effjott
 
Ok, danke schon mal so weit. Und bei den "Vier Jahreszeiten" hat quasi Vivaldi schon diese außermusikalischen Bezüge textlich aufgeschrieben (und zwar erst nachdem das Werk fertig komponiert war, so weit ich weiß?)?
 
berichtigt mich wenn ich falsch liege:
die barocker hielten eine "nachahmungsästhetik" hoch - vor allem natürlichkeit und menschlichkeit war gefragt. wer künstelte (bach) flog raus, blieb aber immer hoch angesehen bei den kennern und instrumentalisten.
vivaldi war zeit seines lebens jemand der trends mit machte.
ich bin mir nicht sicher, aber ich meine gelesen zu haben, dass in der originalpartitur von vivaldi einige sachen drin stehen.
"Tuoni" - gewitter [im frühling]; "Canto de gl Ucelli" - vogelstimmen; "Il cane che grida" - der bellende hund; "fugato..." was heißt wild? :D
ein teil dieser programmatischen phrasen ergibt sich aus den sonetten die (vielleicht) vivaldi selbst, den konzerten vorangestellt hat.
dass die vögel in ihrem lebensfreudigem übermut durch das gewitter einen "aufs dach" kriegen und dann, etwas vorsichtig/verhalten wieder anfangen zu singen (das moll ritornell des ersten satzen) kann man sich eventuelle auch ohne "vorsagen" denken. ob vivaldi es nun so gemeint hat oder nicht ist sicherlich intressant. spaß macht es auch seine eigene version der bilder zu malen, dabei können intressante sachen entstehen....

ich denke es gibt schon einen unterschied im programmatischen nachahmen und in (romantischen) aussagen in der musik die über eine darstellung von "greifbaren" hinausgeht.
 

Unser weiteres Online-Angebot:
Bassic.de · Deejayforum.de · Sequencer.de · Clavio.de · Guitarworld.de · Recording.de

Musiker-Board Logo
Zurück
Oben