eines würde ich gerne hinzufügen:
Versuche nicht den Zugang zum Improvisieren zu analytisch zu bestreiten. Wichtig ist das spielerische, empirisch experimentelle Element.
Daher ist auch nicht nötig sich alle Kirchentonleitern und sonstigen Scales anzueignen und sie dann alle in allen Tonarten anwenden zu können. Ich sage bewusst nicht "erstmal nicht nötig", denn mitunter gibt es Skalen, die Du überhaupt nicht wissen musst, sofern Du keine Studiohu... kein Studiomusiker bist.
Improvisation ist nicht Autofahren oder Puzzeln oder Modellbau, sondern Musik und Kunst.
Daher musst Du Deine improvisatorische Identität bestimmen. Zuerst wirst Du noch im Korsett Deiner instrumentalen Beschränktheit gefangen sein. Du kannst also Ideen und Licks, die Du bereits im Kopf hast, nicht intuitiv auf das Griffbrett übertragen.
Ausgehend davon, daß Du über Grundkenntnisse der Harmonielehre verfügst (Tongeschlechter erkennen, Funktionsharmonik begreifen)
Tipp eins:
Nimm ein Playback eines Standards auf (oder besorg dir ein Aebersold-Album) und mache Dich mit den Changes vertraut (Comping auf der Gitarre lernen).
Versuche dann zu diesem Playback eine Melodie/Improvisation zu singen und nimm dies ebenfalls auf.
Analysiere beim Abhören welche Stellen Dir am besten gelungen sind bzw welche Dir gefallen und transcripiere sie bzw spiel sie mit der Gitarre nach.
Versuche anhand des Tonmaterials herauszufinden welche Skala bzw Skalen oder Arpeggien das sein könnte(n) oder sind.
Diese Skalen solltest Du dann flüssig spielen können und Dir den Sound einprägen. Du kannst Sie dann auf diesem Playback intuitiv anwenden und dabei erkennen, an welchen Stellen sie gut passen. Hab immer das Chart zu Hand und versuche ein Verständnis der Verbindungen zwischen den Akkorden und den Skalen zu entwickeln.
Tipp zwei:
Nimm eine Aufnahme eines Standards, auf der ein Musiker (nicht zwingend ein Gitarrist) improvisiert, dessen Style Du gut findest. Versuche Dir die Licks herauszuhören (am besten: zu notieren) die Du besonders cool findest. Übe diese Licks auf der Gitarre ein und versuche sie wie oben beschrieben zu analysieren. Nach einiger Zeit wirst Du verstehen wieso diese Licks gut klingen und sie in dein Repertoire einfügen, sie abwandeln und später eigene Licks dieser Art kreieren.
Tipp drei:
Versuche nicht zu viel auf einmal. Die "alle-Skalen-alle-Modes-alle-Arpeggien"-Taktik führt sehr schnell zum Erfolg, und zwar zur erfolgreichen und völligen Verwirrung. Kein Koch der Welt lernt erst alle Rezepte der Menschheitsgeschichte bevor er sein erstes Schnitzel brät. Wenn Du einige wenige Dinge gut beherrschst und sie erfolgreich anwenden kannst, dann beginnst Du das Prinzip zu begreifen und aus der entstandenen Klarheit kannst Du Dein Skalen-Repertoire jederzeit erweitern, und zwar um die Skalen die DU möchtest und die DU gut findest. Nicht jeder mag lydisch, nicht jeder mag alteriert (Melodisch Moll7). Wenn Dir Pentatonik gefällt: Prima! Pentatonik ist weder verboten noch für Anfänger reserviert. Wer sehr gerne Pentatonik spielt ist Scott Henderson (Blues Band und Tribal Tech), aber er mischt natürlich viele outside-Scales und spielt Pentatonik auch mal ungewöhnlich (z.B. B-Moll-Pentatonik über Cmajor7 ... gibt einen lydischen Sound)
Tipp vier:
Wenn Du Skalen übst, dann spiel sie nicht nur auf der Gitarre, sondern versuch sie auch zu singen, ganz egal ob Du ein begnadeter Sänger bist oder nicht. Wichtig ist, daß Du Dir einen "Link" zwischen Gehirn=>Ohr=>Hand=>Instrument schaffst. Wenn man zu sehr über die Theorie geht, dann fehlt das Ohr in dieser Kette. Folge: Es klingt langweilig und im schlimmsten Fall scheisse, selbst wenn das Tonmaterial harmonisch korrekt ist.
... Das ist auch der Unterschied zwischen "Dichtung" und "Bundestagsrede", auch wenn bei beiden die Grammatik richtig angewendet wurde. (Ausnahme: Stoiber)
Tipp fünf:
Höre viel Musik. Höre vor allem viele Improvisationen mit Blasinstrumenten. Der Nachteil des Blasinstrumentes, das Luft holen müssen, ist nämlich eigentlich ein Vorteil. Durch die Atempausen entsteht bei diesen Instrumenten automatisch ein Charakter, der einer Erzählung gleich kommt. Pausen sind unheimlich wichtig für den Hörer um das Gehörte zu verarbeiten und um den Gesamtsound der Band aufzunehmen. Improvisation ohne Pausen wird gern als "Genudel" wahrgenommen. Achte beim hören der Musik guter Musiker darauf wo sie die Pausen setzen. (=> Miles Davis!)
Tipp sechs:
Versuche Dir verschiedene Regeln für ein Solo setzen, die Du im Voraus bestimmst und die Du dann einhältst. Viele Musiker verirren sich in der Improvisation, wissen zu irgend einem Zeitpunkt nicht mehr was sie eigentlich spielen wollen und verfallen in Griffschemata und mechanische Abläufe anstatt Musik zu machen (=> siehe "langweiliges Genudel"). Versuche Dir ein kurzes Motiv auszudenken, eine kurze, gesangsähnliche Melodie, ein distinguives, rhythmisches Pattern und baue darauf ein Solo auf. Generell ist die Wiederholung ein beliebtes Stilmittel das fast immer sehr gut ankommt, z.B. sich verschiebende Dreiklang-Arpeggios oder Repititionen (siehe David Paich von Toto).
Experimentiere mit Dynamik. Nicht jedes Solo muss leise anfangen und laut aufhören, aber generell ist das ein probates Mittel und allemal besser als Dauerpegel MIDI 128 (sagt der Schlagzeuger zum Gitarristen: "Spiel mal dynamischer". Sagt der Gitarrist: "Ich kann aber nicht mehr lauter")
Ich könnte noch so viel schreiben, hab aber keine Zeit mehr.
Viel Erfolg und vor allem Spass!
Abschliessend ein Zitat von Bird:
"First you learn the instrument, then you learn the music. Then, you'll forget all that shit and just play"