Ich habe gerade nochmal das Buch
Blues aus 100 Jahren von
Alfons Michael Dauer quergelesen. In den Bluestexten, die dort abgedruckt und übersetzt sind, geht es hauptsächlich um Frauen, Sex, Kohle, Alkohol und Drogen. Um Gott geht es nur am Rande. Z.B. im
Canned Heat Blues (Canned Heat: Hitze in Büchsen - ist wohl ein selbstgebrannter Schnaps bzw. Brennspiritusverschnitt, den man in der Not der Prohibition trank):
Cryin canned heat, canned heat mama, cryin' sure, Lord, killin' me.
[...]
Woked up this mornin', with canned heat, Lord, on my mind.
Gott wird immer als Lord bezeichnet. Lord wird genauso wie Mama verwendet, und zwar ungefähr so ähnlich, wie wir "Oh Gott" sagen. Außerdem läßt sich Lord sehr gut singen, z.B. dann, wenn einem gerade der Text nicht einfällt oder so.
In einem Beispiel wird dieses Wort 10x hintereinenader gesungen:
Chicago is loaded with Blues.
Es geht um folgendes: New York ist voll mit Leuten, L.A. ist voll mit Filmstars, Zeitungen sind voll mit Nachrichten, das Meer ist voll mit Wasser, Las Vegas ist voll mit Spielern, aber Chicago ist voll mit Blues.
Wörtlich heißt es dann im Refrain:
Lord, Lord, Lord, we got the blues,
Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, we got the blues,
Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, Lord, we got the blues;
we got blues that'll make you lonesome, Lord, we got blues, that'll make you glad.
Also Lord ist eigentlich ein ideales und universales Füllwort.
Anders im Spirutal und im Gospel, da geht es ganz konkret um Gott, Jesus, Sterben, Jenseits, Geschichten aus der Bibel etc.
Alfons Michael Dauer schreibt (auf Seite 10):
Sehr nahe verwandt zur Bluespoesie zeigt sich schließlich die religiöse Folklore der Afro-Amerikaner, besonders das Repertoire der Straßenevangelisten, der Heilungs- und Erweckungskirchen (Sanctified Churches) sowie der poetische Predigerstil der "Chanted Sermons". Keine Verwandtschaft mit den poetischen und musikalischen Merkmale der genannten Bereiche des Blues, Worksongs und Sacred Singing haben die Spirituals. Sie gehören poetisch und musikalisch in ihrer Mehrheit einer völlig anderen Traditionsschicht an und weisen nahezu keinerlei Gemeinsamkeiten mit dem Blues auf. Es ist daher unrichtig zu behaupten, daß Blues und Spirituals in irgendeinem chronologischen, historischen oder gar entwicklungsmäßigen Zusammenhand stehen - wie das in vielen Darstellungen der Jazzgeschichte üblich ist; extrem formuliert ließe sich sagen, sie sind einander poetisch und musikalisch fremd. Hingegen werden die Bereiche des Blues, Worksongs, Sacred Singing, Chanting und Preaching von den Afro-Amerikanern als unmittelbar zusammengehörig empfunden; sie sind lediglich in ihren Inhalten alternativ, so daß es als unschicklich angesehen wird, sich z.B. im Bereich des Blues und des Sermons gleichzeitig zu betätigen oder Formen des Blues und des Sacred Singing miteinander zu vermischen.
Ray Charles hat ja diese Vermischung dann absichtlich gemacht, was ihm anfangs sehr übel genommen wurde.
Viele Grüße,
McCoy