Ich rücke einen beitrag zu einem alten thema nochmals ein, ohne große hoffnung, dass er gelesen, verstanden oder gar beherzigt werde.
"Der See ruht im dämmernden Morgenschimmer,
dumpf stößt die Welle an das dunkle Ufer,
düstere Waldberge steigen auf und schließen die heilige Gegend von der Welt ab.
Schwäne ziehen mit flüsterndem Rauschen wie Geister durch die Fluten,
und eine Äolsharfe tönt, Klage sehnsüchtiger, einsamer Liebe
geheimnisvoll von jener Ruine herab."
Ich wette, das geht euch durch den sinn und drückt eure gefühle aus, wenn ihr von der "Mondscheinsonate" sprecht, so wie ein paar junge leute in einer novelle von Ludwig Rellstab (1799-1860), schriftsteller und musikkritiker, verfasser von gedichten, die in Schuberts vertonung erhalten geblieben sind wie "Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir". Und seitdem scheint der mond über dem Vierwaldstätter See, klebt wie pech an der klaviersonate opus 27,2 von Ludwig van Beethoven und lässt sich kaum davon entfernen.
So ist es mit überlieferungen, einer gibt den anstoß und schon bildet sich eine tradition, die nachgeborenen erspart, selbst nachzudenken und nachzuforschen. Ein großer teil unserer kommunikation läuft über vorgefertigte versatzstücke ab, die wie teile einer bühnendekoration für die verschiedensten stücke benutzt werden.
Wir könnten sagen, was geht es uns an, was ein autor sich gedacht haben mag, wir spielen frisch drauflos. Aber soll man andächtig gen himmel schauen, eine trauermiene aufsetzen wie unsere politiker, wenn sie eine kranzschleife zurechtrücken (das "niederlegen" erlaubt die würde nicht), oder gleichbleibend mürrisch dreinschauen wie einer unserer großen und unbestreitbar tüchtigen interpreten? Man wüsste doch gern, worum es geht.
Einige fakten: Beethoven hatte bereits 11 klaviersonaten geschrieben, die letzte, die "sich gewaschen hatte", als er etwas neues einführt, die sonaten "gleichsam phantasien", er schaltet formal sehr frei, ändert die herkömmliche reihenfolge der sätze, fügt rezitativische einschübe ein und anderes mehr, als hätte er etwas besonderes zu sagen. Er opfert die üblichen formen zugunsten poetischer ideen, über die er sich jedoch ausschweigt. Mit ausnahme der "Pathétique" stammen die bezeichnungen nicht von ihm, es gibt keine "Mondscheinsonate" und keine "Appassionata".
Komponisten (und andere) sind sehr zurückhaltend, wenn es um kreative prozesse geht, zum teil aus gutem grund, Janacek wird nicht mehr als nötig ausplaudern über seine "Intimen Briefe", und Tschaikowsky tat gut daran, seine homo-erotische gedanken- und gefühlswelt zu verschweigen, wurde sein zeitgenosse Oscar Wilde ja mit zuchthaus und physischer vernichtung bestraft. Wie weit krankheitsbedingte prozesse, auch drogen eine rolle spielen (das Schiller-jahr brachte die "faulen äpfel" zutage) wollen wir hier nicht untersuchen und kehren zu den fakten zurück.
Opus 27,2 stellt die sonatenstruktur auf den kopf, die tonart cis-moll ist außerordentlich selten (Beethoven hatte bei Neefe in Bonn das "Wohltemperierte klavier" gespielt, und da ist die 5stimmige fuge mit der BACH-thematik ein herausragendes stück), am anfang steht ein Adagio sostenuto mit trauermarsch-intonation zu einem akkordteppich, und dann entspinnt sich ein dialog zwischen einer höheren und tieferen stimme, bis die musik in sich zusammensinkt, bevor es "attacca", fest verbunden, mit dem zweiten satz weitergeht. Wie hängen diese beiden sätze miteinander zusammen, idylle und ein neckisch hüpfendes Allegretto? Dass es im Finale stürmt, darüber besteht kein zweifel, aus dem piano heraus ein trockener sforzato-schlag, schon der zweite ist wieder piano.
Wer kennt aus der weltliteratur ein werk mit einer tragischen, womöglich sterbe-szene, einem letzten gespräch, aufwallendem gefühl (so sehe ich den ruhig und ausdrucksvoll gespielten zweiten satz) und einem gewittersturm?
Ich stieß auf einen brief an Beethoven mit dem hinweis auf ein gedicht von Seume (dem fußwanderer nach Italien), das in dem absender ähnliche gefühle erregt habe wie des meisters sonate, ein gebet eines mädchens um das leben des vaters. Leider ist von einer antwort nichts bekannt.
Über die Gräfin Giulietta Guicciardi reden wir auch noch, ihr ist das werk gewidmet.
Nach dem ersten schritt folgt der zweite.
Musikwissenschaft ist eine junge disziplin, im 19.Jh. gab es eher musikschriftsteller, vordem auch "reisende in musik" wie den engländer Burney, Rellstab hatten wir genannt, E.T.A.Hoffmann muss erwähnt zu werden, auch musiker griffen zur feder wie Robert Schumann, Hector Berlioz und Richard Wagner. Kritiker glauben bis heute, die rolle von unfehlbaren päpsten einnehmen zu können und übten und üben großen einfluss aus, denn leider hören viele leute auf sie. Eduard Hanslick in Wien war jurist, eine schrift zur musikalischen ästhetik machte ihn zur autorität in sachen musik, und er nahm vehement stellung im prinzipien- und meinungsstreit um tradition und neutönertum. Er opponierte gegen Schumanns meinung, musik sei ausdruck von gefühlen, folge irgendeiner vagen poetischen idee, nein, als "absolute musik" habe sie ausschließlich mit musikalischen gesetzen zu tun, und was Liszt, Berlioz, gar Wagner, Bruckner und andere da trieben, sei des teufels, und er hob Johannes Brahms als gegenpol und "neo-klassiker" auf den schild.
Das ganze, aus heutiger sicht betrachtet, entbehrt nicht der komik, denn auch Brahms ließ sich gern von einer solch verpönten, poetischen idee anregen, wobei ihm eine zeile eines gedichtes genügte. Und Hanslick selbst? Im kreise seiner familie soll er geäußert haben, wie ihn die musik von Brahms langweile, denn seine wahre liebe gehörte der leichteren muse, Strauß und Lanner waren seine favoriten, und hellauf begeistert war er, wenn die mädels in einer Offenbachschen operette die beine schmissen.
Aber Hanslicks ansichten gingen in die junge musikwissenschaft ein, "Mondschein" wurde zwar als verkaufs- und beliebtheitsfördernd akzeptiert (geschäftstüchtige verleger hatten auch werke von Haydn mit beinamen versehen), aber weitergehende deutungen waren verdächtig, denn klassik war nun einmal klassik, Beethoven ein klassiker, somit absolut und damit basta. Dass er eine "Eroica", eine "Pastorale", eine bühnenmusik zu "Egmont" geschrieben hatte, wo es eindeutige bezüge zu außermusikalischen vorgängen gab, fiel nicht ins gewicht.
Ich komme zum schluss ( bei dem wetter kann man ohnehin nichts anderes machen ) und stelle vor:
Arnold Schering (1877-1941) - Kreuzschüler in Dresden - Studium violine und komposition in Berlin, danach etliche geisteswissenschaftliche fächer - musikwissenschaft - seit 1915 professor in Leipzig, Halle, Berlin - viele ehrenämter (Händelgesellschaft u.a.) - zuletzt Präsident der Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft
Ihn bewegte, was uns bis heute bewegt, ihm stand Beethovens nachlass zur verfügung, und ausgehend von dessen bemerkung "Lesen Sie Shakespeare's Sturm!" in verbindung mit der sonate d-moll op.31,2, griff er nach der im besitz des komponisten gewesenen ausgabe in einer heute nicht mehr üblichen übersetzung. Er fand anmerkungen, an- und unterstrichenes, zeichen fleißiger und gründlicher lektüre. Es gibt bei Shakespeare szenen mit der regieanweisung "music" im hintergrund, z.b. "König Lear", 4.akt, 7.szene. Der alte könig ist nach seinem wahnsinn im gewittersturm auf der heide erschöpft eingeschlummert, und seine jüngste tochter Cordelia, die er verstoßen hatte, weil sie nicht zu schmeicheln vermochte wie ihre schwestern, ist bei ihm, und als er erwacht, entspinnt sich ein anrührender dialog mit der totgeglaubten.
Hatten wir nicht nach sturm, gewitter, einem tragischen zwiegespräch in todesnähe und überquellendem, weiblichem gefühl gesucht? Auch wenn die dramaturgie aus musikalischen gründen verschoben ist, ist sie nicht allemal wahrscheinlicher als eine mondschein-idylle?
Das büchlein "Beethoven in neuer deutung" ist längst vergriffen, Scherings arbeit von vertretern der "reinen lehre" verteufelt, Hanslick wirft noch einen langen schatten. Freilich kann man Beethovens musik spielen und hören, ohne sich das mindeste dabei zu denken, sie bleibt schöne musik, aber wer nicht an "König Lear" glaubt, sollte auch nicht an "Mondschein" glauben, und sich von einer ergreifenden literarischen oder anderen außermusikalischen vorlage inspirieren (es gibt viele beispiele) oder sich als interpret leiten zu lassen, ist nicht ehrenrührig trotz Hanslick und anderen päpsten !
Beinahe hätte ich es vergessen: dass ein musiker manches empfindet für ein charmantes 17jähriges mädchen, was über seine rolle als lehrer hinausgeht, soll nicht selten sein (wenn ich etwa an einen kollegen denke, dessen zahlreiche ehen mit neuem studienjahr endeten), vielleicht waren es väterliche gefühle, vielleicht erinnerte Giulietta Guicciardi an Cordelia, was den meister veranlasste, ihr diese sonate zu widmen, wir werden es nicht wissen, und wir brauchen es nicht zu wissen.