Bedeutung der Taktstriche in Barockmusik ... ?

turko
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Hallo an die Kollegenschaft !

Ich hoffe, mit meiner Frage das richtige Forum getroffen zu haben ... gehört wohl eher in sowas wie "Musik-Geschichte" oder ähnliches ... jedenfalls, es geht um:

Beim Auseinandersetzen (= Singen meistens, oder auch spielen) von Barockmusik finde ich Taktstriche an - für mich (!) - sehr unerwarteten Orten. Besser gesagt: Die Striche sind natürlich schon dort, wo sie hingehören, aber die musikalischen Schwerpunkte nicht.

Oft empfinde ich sowas wie "Halbe Takte" (wenn es der jeweiligen Phase halt gerade dienlich ist), während die Notation jedoch "stur" weiterläuft als wäre nichts geschehen, was zur Folge hat, daß die nächsten Takte dann quasi "phasenverschoben" notiert scheinen ... bis sich bei der nächsten derartigen Gelegenheit alles wieder aufhebt ...

Nun frage ich mich, ob ich diese Musik schlicht "falsch empfinde", oder ob es damals halt andere Konventionen zur Notation und im Speziellen zu Taktstrichen, gegeben hat.

Ich habe zwar versucht, in der "Fachliteratur" was darüber zu erfahren, aber dieses Thema wurde jeweils nur sehr oberflächlich, wenn überhaupt, erwähnt. Jedenfalls für mich persönlich unbefriedigend.

Weiß jemand Näheres ? Würde mich über Gedankenanstöße freuen.

LG, Thomas
 
Eigenschaft
 
Taktstriche erleichtern das gemeinsame musizieren und singen, sie helfen "den haufen zusammenzuhalten". In neuerer zeit fand auch eine "periodisierung" der musik statt, mit synchronem schwerpunkt der stimmen. In der renaissance waren stimmen metrisch selbständig, Leichtentritt empfiehlt in seiner ausgabe der madrigale Monteverdis, nur die viertel zu markieren, da die schwerpunkte der polyphon geführten 5 stimmen voneinander abweichen.
In der regel markieren taktstriche den hauptakzent. Es gibt auch gründe, sie wegzulassen, z.b. bei melismen, solokadenzen oder zu gunsten eines rhythmisch freien melodischen flusses. Bei solostücken kein problem, im orchester fast unmöglich. Phasenverschiebung wird aber seit langem praktiziert (Schumanns klavierkonzert,3.satz), der takststrich ist kein prokrustesbett, oft gehen phrasen über ihn hinaus oder kümmern sich nicht um ihn, etwa bei Skrjabins "Préludes".
Ich persönlich richte mich nach der phrasierung, akzentuiere deren anfangston und spiele über die taktstriche hinweg, das gibt jeder interpretation einen synkopisch/lebendigen charakter, irritiert aber partner bei kammermusik.

Es wird auch viel gesündigt nach der methode "wo nix da steht, wird nix gemacht", bei barocker musik muss man oft selbst die phrasierung finden, sie ist nicht notiert, dann hört man, was ich "bandwurmmusik" nenne, armer Bach!
Sänger und bläser müssen atmen, streicher die bogenrichtung wechseln, klavierspieler müssen gar nichts.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hat der Taktstrich seine metrische Bedeutung, nämlich dass ihm der Schwerpunkt folgt, nicht erst mit der Klassik und Romantik gewonnen?
Im Barock (mindestens bei Bach) war doch der Kontrapunkt mit seinen selbständigen Stimmführungen und entsprechender metrischer Gewichtung relevant.
Insofern verstehe ich den Taktstrich in der Barockmusik als rein sekundäres Ordnungsmerkmal, um Übersichtlichkeit zu schaffen.
 
Die Sätze einer barocken Suite sind ja bekanntlich überwiegend Tanzsätze, und Tänze hat es natürlich auch lange vorher schon gegeben. Und natürlich sind Tänze immer taktgebunden, auch wenn man Taktstriche in der Notation konsequent erst im 17. Jahrhundert findet.

Richtig ist, daß in alter Vokalpolyphonie die Taktgebundenheit oft aufgehoben ist, z.B. weil polyphone Engführungen Taktverschiebungen mit sich bringen und weil oft die Themen nicht eindeutig in gleichmäßige Taktarten zu packen sind.

Im Barock muß man unterscheiden, mit welcher Gattung man es zu tun hat. So ist zum Beispiel ein Menuett immer streng taktorientiert und immer auch "periodisiert". Was man in Tänzen nicht selten findet, sind aber Hemiolen bei Kadenzschlüssen (aus 2mal 3/4 werden 3mal 2/4) und gelegentlich auch den Wechsel zwischen 3/2 und 6/4.

Was man ebenfalls oft findet, ist die Notation in Großtakten: Ein 4/4-Takt besteht aus 2 mal 2/4 bzw. 2mal 4/8. Dann enden Kadenzschlüsse oft auch in der Taktmitte, Themen- und Motive-Einsätze können um einen halben Takt verschoben sein (gar nicht selten z.B. bei Bach).

Was man dann auch noch findet, ist tatsächlich die wenig strenge Einhaltung des Taktes in polyphonen Sätzen. Schönes Beispiel dafür ist die dis-moll-Fuge aus dem WTK I. Dort läßt sich bereits das Thema nicht in den 4/4-Takt zwingen, aber auch kaum in eine andere Taktart. Der Grund ist, daß Bach es von vornherein so angelegt hat, daß es auf jedem Taktschlag beginnen kann, denn das macht mehrfache Engführungen im Verlauf der Fuge möglich. Die Fuge bleibt trotzdem taktgebunden, denn alle Halb-, Trug- und Ganzschlüsse enden auf einem Schwerpunkt, nämlich entweder auf der Eins oder auf der Drei (Großtakt).

Davon, daß die Taktstriche im Barock nur der visuellen Orientierung dienen und sie erst in der Klassik ihre metrische Bedeutung erhalten, kann nicht die Rede sein.
 

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