Komisch, ich finde, daß hört sich grauenvoll an. Wie kommt das denn?
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An dieser Stelle finde ich es allerdings sehr beeindruckend, daß ich es finde wie für den Mülleimer und Ihr so gar nicht. Was stimmt nicht?
Hallo Toni,
das ist wirklich ein interessanter Punkt.
Abseits von aller Theorie steht am Ende immer (!) das Hörempfinden.
Zunächst: ein "technisches Problem" beim Stradella-Baß
Es geht hier ja konkret um das berüchtigte "Basteln von Jazz-Akkorden" mit Stradella, also außerhalb des reinen Dur-/Moll-/Sept-/Vermindert-Standardbaukastens auch andere Harmonien durch "ungewöhnliche" Kombinationen von Baß-/Akkordtönen oder gar mehreren Akkordknöpfen zu erzeugen.
Normalerweise hat man bei Klavier, Gitarre oder Bläser-/Streicher-Arrangements die Möglichkeit, neben dem reinen Tonvorrat eines Akkords auch die Anordnung (Oktavlage) der Töne zu wählen, bei Stradella sind alle Bestandteile notgedrungen in eine einzige Oktave gedrängt.
Wenn also auf dem Klavier ein offen gespielter Akkord, bei dem "reibende" Töne weit entfernt voneinander gespielt werden, angenehm klingen kann, mag es sein, daß ein entsprechendes Stradella-Voicing, wo die konkurrierenden Töne direkt nebeneinander zu liegen kommen, eher unschön klingt.
Außerdem bestehen Dreiklänge (die Stradella-Akkorde) immer aus drei Tönen im Terzabstand (groß oder klein), da lassen sich nicht alle benötigten Kombinationen bilden, weil sehr leicht mehr oder weniger unerwünschte Töne mit ins Boot holen muß, ob man will, oder nicht.
Ergo (es geht hier nicht ums Abspielen von vorgelegten Noten, sondern um eine selbständige Entscheidung, eine Harmonie auf die eine oder die andere Weise zu spielen):
Beim E7sus4, der Dir die Schuhe auszieht, kommt durch den D-Dur-Akkord noch ein fis hinzu, das in einem
Em7sus4 E7sus4 eigentlich nichts zu suchen hat (sonst wäre es ein
Em9sus4 E9sus4).
Kann sein, daß dieser Ton Dich vor allem stört. Warum aber mich und Klangbutter nicht?
Ich bin fest überzeugt davon, daß unsere Hörgewohnheiten, also auch die musikalische Sozialisation, die Musik unserer Kindheit usw. eine entscheidende Rolle spielen.
Wer viel und oft "im Jazz" unterwegs ist, dem werden "krumme" Akkorde viel weniger beeindrucken als jemanden, der kristallklare Harmonik des Barock oder volksmusikalische Schlichtheit gewohnt ist und erwartet.
Extrembeispiel: Für die Mönche im Mittelalter waren alle Intervalle außer die Prime oder Oktave dissonant - Gregorianische Choräle sind deshalb auch immer (!) einstimmig und ohne Harmonie-Begleitung.
Für diese Mönche wäre eine Quinte gerade noch erträglich, aber schon eine Terz, der Grundbaustein unserer Dur-Moll-Harmonik, hätten sie als schier unerträglich empfunden.
Ein ordinärer Dominantseptakkord heißt (Dominant-...), weil er nur auf der Dominante "passiert" und dann auch die kleine Septim teil der Tonleiter ist. Dieser Akkord galt als instabil, dissonant auflösungsbedürftig (zurück zur Tonika).
Schon im Blues ist aber eigentlich
jeder Akkord ein Septakkord und der löst sich auch nicht auf.
Überhaupt geht Jazz erst bei Vierklängen los, und dann wir fleißig weitergestapelt (immer Terzen drauf, bis man wieder beim Grundton angelangt ist). Und dann können diese Optionstöne der Terzschichtungen auch noch hoch- oder tiefalteriert werden.
Das ist im wesentlichen die Harmonische "Spannweite" der Musikgeschichte.
Was der eine als unerträglich "schief" empfindet, mag der andere "farbig", "warm" usw. wahrnehmen.
Viele Grüße
Torsten