[Amp] Hohner Orgaphon 45 MH

Knallcharge
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Zuerst stellt man sich die Frage, warum man ein Review über einen Verstärker schreibt, welcher vor zirka 60 Jahren das Licht der Welt erblickte. Die Antwort ist ganz einfach: Ich habe Spaß daran. Der Typ Verstärker wird immer wieder sehr günstig angeboten.

Zu dem Verstärker bin ich wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Im örtlichen alten Schützenheim, welches renoviert werden soll, wurde ausgemistet. In einem Abstellraum befand sich dieser Verstärker im Originalkarton. Ein Freund von mir, der wusste, dass ich mich für so etwas interessiere, rief mich direkt an. Schlussendlich durfte ich unserem örtlichen Schützenverein zwei Kisten Bier spenden und das Teil war meins. Leider fehlte der Netzstecker.

Der Zustand des Gerätes war hervorragend und kommt fast an neuwertig heran. Der Amptechniker meines Vertrauens hat den Verstärker kurz gecheckt. Die Röhren waren alle noch bei (oder über) 100%. Es mussten keine teile gewechselt werden. Nur ein neuer Kaltgerätestecker wurde eingebaut. Nochmal, der Zustand ist phänomenal.

Typisch deutsch, der Verstärker besitzt die damals üblichen dreipoligen DIN-Stecker. Um nun Töne aus der Kiste zu bekommen, ach was, selbst drei Adapter von Din auf Klinke befanden sich im Karton. Der Verstärker wurde entwickelt, für zum Beispiel Tanzbands, wo sich Akkordeon, Gesang, Bass und Gitarre einen Verstärker teilen mussten. Dass er als reiner Gitarrenamp gebraucht werden könnte, daran hätte bei der Entwicklung keiner dran gedacht.

Die Röhrenbestückung besteht aus 3x ECC808, 2x ECC83, 1x EF86, 1x ECL86 und 2x PL84 (ja PL und nicht EL) Bei der ECC808 handelt es sich um eine Weiterentwicklung der ECC83. Eigentlich war beim Erscheinen der ECC808 diese schon obsolet, weil der Transistor bereits seinen Siegeszug angetreten hatte. Deshalb sind die verfügbaren Stückzahlen gering und hochpreisig. Dies könnte sich ändern, wenn JJ auf den Trichter kommen würde, diese Röhre wieder auferstehen zu lassen. Zuletzt stirbt die Hoffnung. Wenn man den Sockel umlötet, können aber auch wieder normale ECC83 verwendet werden. Die PL84 Endröhren wurden massenhaft in Fernsehern verbaut und ist aus Altbeständen als Schüttgutware zu haben. Die Gleichrichtung erledigen Dioden, die Zeiten einer Gleichrichterröhre waren bei der Entwicklung der Orgaphon Serie bereits vorbei. Später im Text gibt es dazu noch etwas mehr Informationen. Im Netz gibt es einiges zu entdecken und anhand diverser Informationen kann man sich schon ein Bild machen.

Der Verstärker ist reichhaltig ausgestattet. Jeder Kanal besitzt zwei Eingänge mit unterschiedlichen Empfindlichkeiten, Höhen- und Tiefenregler und Lautstärkeregler. Die Lautstärkeregler sind in zwei Kanälen als Push-Pull-Potis ausgestattet. Damit wird der Tremoloeffekt im Kanal zugemischt. Der Reverb ist sehr speziell an diesem Verstärker. Man kann die generelle Stärke des Reverbs und den Mischungsanteil je Kanal dieses Effekts bestimmen. Dadurch hat man die Möglichkeit seine Gitarre bei niedriger Gesamtlautstärke so erklingen zu lassen, als ob man in eine Halle weit weg stehen würde. De Effekte können jeweils per Fußschalter ein und ausgeschaltet werden. Zwei 12-Zöller, angeblich schamlose deutsche Goodman Kopien, verleihen dem Verstärker genügen Potential laut genug und druckvoll zu sein. Zur weiteren Ausstattung des Verstärkers gehören der große, bei Betrieb leuchtende Ein-Aus-Schalter, Spannungswahlschalter damit man den Verstärker auch unter anderen Stromnetzen betreiben kann, zwei Anschlüsse für externe Lautsprecher mit dazugehörigem Wahlschalte 4 oder 16 Ohm, einen Stand-By-Schalter und zwei weitere Eingänge für externe Signale.

Genug der Beschreibung. Was kommt auch den Lautsprechern raus? Als Testbrett musste meine Rockinger-Non-Tremolo-Strat mit hochwertigen Fender Pickmups herhalten. Gitarrenkabel in die Gitarre, in den Adapter und dann in den ersten Kanal der auch für Gitarre abgestimmt ist. Ich bin beeindruckt. Glasklar, deutlich und druckvoll mit Arsch, Eier und Charakter. Höhen- und Tiefenregler arbeiten sehr effektiv. Es macht richtig Freude. Irgendwie erinnert mich der eingestellte Sound an…??? Ich schalte ein Electro Harmonix Memory Man 1100 davor, einige Einstellungen gewählt und ich habe es. Der Sound erinnert mich an cleane U2 Sound ala „All I want is you”. Lange verweile ich in diesem Kanal. Die anderen Kanäle sind auch gut, aber eher für Bass und andere Anwendungen geeignet. Aber auch hier kommen schöne Grundsounds zu Tage.
Wer Gainreserven bei meinem Orgaphon sucht, der kann lange suchen. Wenn es verzerrt zur Sache gehen soll, dann muss man auf Vorschaltgeräte zurückgreifen. Ich habe es mit zwei Geräten versucht, und zwar einem Hughes & Kettner Tubeman I und einem Hughes & Kettner Metal Master. Beide Geräte harmonisierten in allen Kanälen hervorragend mit dem Verstärker, wenn man die passende Einstellung gefunden hat. Dadurch wird der Verstärker soundmäßig so flexibel wie ein schweizer Armeemesser.

Der Reverb ist sehr speziell an diesem Verstärker. Man kann die Stärke und den Mischungsanteil dieses Effekts bestimmen. Dadurch hat man die Möglichkeit seine Gitarre bei niedriger Gesamtlautstärke so erklingen zu lassen, als ob man in eine Halle weit weg stehen würde. Aber auch „normale“ Reverbtöne sind damit zu kreieren. Der Vibrato / Tremoloeffekt ist über jeden zweifelerhaben.

Wie soll es mit dem Gerät weitergehen.
Technisch ist es sehr einfach diesem Boliden einen mit einer Röhre gebufferten FX-Loop zu spendieren. Das würde den Verstärker nochmals aufwerten.
Die Gesamtschaltung könnte man auch noch so pimpen, dass das Poti, welches eigentlich für externe Vorstufen (Tonbandgerät…) vorgesehen ist, als Master Volume dient.
Damit hätte man einen universellen Röhrencombo für Gitarre, Bass, Keyboard und weiß Gott noch wofür, mit sehr zeitgemäßen Features.

Lohnt sich der Erwerb eines solchen Verstärkers?
Wenn jemand nun aufgrund meines Berichtes den Entschluss gefasst haben sollte, sich so einen Verstärker zuzulegen, dem sei zur Vorsicht geraten. Es gibt diverse Modelle dieses Typs. Um es noch komplizierter zu machen, es gab auch zig Änderungen im Design. Es gab teiltransistorisierte Modelle, von denen man generell abraten kann. Die Qualität war bei diesen Modellen nicht mehr top und es war halt kein richtiger Röhrenverstärker mehr. Auch die Modelle 60MH, Super Reverb 76, 61 und 62 meiden. Diese Modelle besitzen EL503 Endröhren, welche, wenn Ersatz benötigt wird, unbezahlbar sind, solange sich JJ nicht diesem Thema annimmt. Die Modelle 18, 18MH, 25MH, 26MH, 50MH, 41MH, 50, Bass sind aber problemlos. Es soll sogar einen Orgaphon 100MH geben, mit 4x PL500 in der Endstufe und 160!!! Watt Endstufenleistung. Um es noch unübersichtlicher zu machen, ganz zu Anfang der Orgaphon Serie gab es noch eine kleine Serie mit EL84 und Gleichrichterröhre. Damit hat man alte Lagerbestände aufgebraucht, denn vor der Orgaphon Serie gab es noch die Concertophon Serie. Sicherlich gibt es noch viele weitere kleine Details zu nennen, aber wie man jetzt schon lesen kann, es ist kompliziert.

Auch sollte man darauf aufpassen, in welchem Zustand sich das Objekt der Begierde befindet. Zu oft wird Kernschrott oder ewige Baustellen angeboten, die ihr Geld nicht wert sind.

Wenn der Zustand gut ist und der Preis akzeptabel ist, so bekommt man einen sehr vielseitigen und wirklich schönen Verstärker. Die Grundsound ist in jedem Kanal anders, aber immer sehr volumig mit Fundament.
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Unterlagen gibt es im Netz genug
 
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Mannnn ... da kommen grad Erinnerungen hoch ... danke für den schönen Bericht! :)

Ich hab je gelegentlich schon erwähnt, dass ich in den 1960ern mal eine Weile in einer der damaligen kleinen Tanzkombos mitgespielt habe. Akkordeon, Gitarre, Bass und Drums - mehr bauchte es nicht, den Leuten hats gefallen, man konnte sich vor Gigs kaum retten (es gab noch keine Discos! ;)). Ich teilte mir mit dem Bassisten genau diesen Verstärker, wobei ich mir grad nicht mehr sicher bin ob es nicht die 60W-Variante war. Anfangs lief auch noch mindestens 1 Gesangsmikrofon mit darüber, bis dann noch die typische Dynacord "Gesangsanlage" dazukam. Von diesem Verstärker waren eigentlich alle begeistert, die Band, aber auch das Publikum. Der Klang war astrein, besonders auch das Vibrato (eigentlich ein Tremolo) klang toll, das Ding machte auch ordentlich Druck bei den ersten "Beatstücken" damals, und vom Publikum wurde auch immer wieder das gute Aussehen angesprochen. War ein tolles Teil!

Einziger Nachteil: Das Gewicht. Ich weiß nicht mehr wie viel es genau war, aber sowohl wir als auch die Helfer vor Ort die immer spontan auf der Matte standen um beim Auf/Abbau mit anzupacken haben den fast immer nur zu zweit getragen ;)
 
Nett! Da erinnere ich mich auch: Anfang der 90er hatte ich einen Arbeitskollegen, der nebenberuflich Sperrmüll verhökerte. In seiner bis zum Bersten mit Sperrmüll gefüllten Garage standen zwei oder drei dieser Kisten wie sauer' Bier herum - neben einem Klemt-Boliden mit 2x EL34. Damals wollte keiner sowas haben.
 
Mein ersten Auftritte 1979 in einer "Tanzmusikformation" (so hieß eine Band damals in der DDR :LOL: ) begannen auch mit ähnlicher Technik.
Wir hatten als Gesangsanlage einen (später zwei) tschechische Tesla Mono 50 AZK405 Verstärker mit 2xEL34 Röhren.
Die 50W Röhrenblöcke haben die damals verbreiteten Regent 100 Transistorverstärker locker an die Wand gespielt.
Ach Ja, schöne Zeit wo bist du hin ...
BDX.
 

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