Notwendigkeit des Bindebogens bei einem Klavierstück

Noch mal ein paar grundlegende Gedanken zu den Binde- und Phrasierungsbögen: Aus meiner Sicht darf man die nicht als mechanische Anweisungen lesen, wann man welche Taste loszulassen hat, bevor oder nachdem die nächste gespielt wird. Solche Artikulationsanweisungen muß man mit Phantasie lesen, sie geben einen Hinweis darauf, was der Komponist (oder Notenschreiber) für eine Klangvorstellung im Kopf hatte.

Wieder der Vergleich mit Sprache und Schrift: Aus einem normal geschriebenen Text, kann ich ja nicht ablesen, wo der Schreiber des Textes in seiner Sprache Betonungen, Pausen, Dehnungen etc. gemacht hat, um seine Aussage zu verdeutlichen. Wenn ich aber allerlei mögliche Hilfsmittel verwende, welche die Schrift "zur Verfügung" stellt, um z.B. besonders(!) wichtige Stellen h e v o r z u h e b e n, wie z.B. kursive, fettgedruckte oder gesperrte Schrift, oder gar mit Gedankenstrichen - Pausen - kennzeichne, dann kann der Leser schon ein paar Betonungen und Hervorhebungen erahnen.

So ist das mit den Binde- und Phrasierungsbögen auch. Ich kann aus ihnen unmittelbar ablesen, wie der Komponist eine Phrase oder ein Motiv gedacht bzw. gehört hat.

Der Brahmswalzer ist ein schönes Beispiel dafür.

Wenn ich mal nur die Noten hinschreibe, dann bleibt unklar, wie Brahms das Motiv eigentlich gedacht hat:
1715808457174.png


Es steht aber so da, und das gibt mir schon einige Informationen:
1715808567721.png

Zunächst gibt es einen Bindebogen zwischen der ersten und der zweiten Note, das scheint mir also das Urmotiv zu sein:
1715808724827.png

Im zweiten Takt sieht man, wie dieses Urmotiv - mit einem Auftakt versehen - zum Hauptmotiv wird:
1715808812947.png

Und das scheint mir die Art und Weise zu sein, wie Brahms das Hauptmotiv verstanden bzw. innerlich gehört hat.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, schreibe ich jetzt eine Version, die Brahms nicht geschrieben hat:
1715809061532.png

D.h. der Doppelgriff c'-as' steht bei Brahms einmal am Anfang und einmal am Ende des Motivs. Er steht nicht zweimal am Anfang.

Das macht für mich einen riesigen Unterschied in meiner inneren Klangvorstellung des Motivs. Und da mein Körper in langen Übungsstunden gelernt hat, meine inneren Klangvorstellungen durch Bewegungen in Klaviertöne umzuwandeln - so, wie mein Kehlkopf, meine Zunge, meine Mundhöhle, mein Atemsystem etc. gelernt haben, meine innere Sprachvorstellung unmittelbar in hörbare Sprache zu verwandeln - hört man dann auch einen Unterschied, ob Bindebögen dastehen oder nicht. Und diesen Unterschied hört man auch dann, wenn die Stelle mit Pedal gespielt wird, weil mein Körper eben gelernt hat, da sehr subtile Unterschiede zu machen, so wie in der Sprache eben auch.

Es geht also um innere Klangvorstellung, nicht darum, wann ich einen Finger wie hebe oder eben nicht.

So, mein Beitrag dazu, um zu bekräftigen, daß die Mythen des Klavierunterrichts keine Mythen sind. :D

Viele Grüße,
McCoy
 
Zuletzt bearbeitet:
  • Gefällt mir
Reaktionen: 4 Benutzer
So wie es Brahms nicht geschrieben hat, wäre es aber nach meiner Auffassung viel organischer.

"Das Klavierspiel, das Klavierspiel"

Statt dessen steht da,

"Das Kla, vierspiel, das Kla, vierspiel"

Ich verstehe halt nicht, warum der Auftakt so oft von der nächsten Eins getrennt wird.


Dass Du bei geschriebenen Bögen innerlich anders hörst, glaube ich sofort.
Vermutlich wirkt sich das bei getretenem Pedal bei Dir in Timing und Betonung hörbar aus.

Kannst ja hier mal ein Klangvergleich einstellen und die Leser müssen raten, bei welchem Akkord die Finger zusätzlich zum Pedal gedrückt bleiben und bei welchem nicht.
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 2 Benutzer
Ich verstehe es auch so wie McCoy, also was Brahms wahrscheinlich meint. Die Achtel an die punktierte Viertel anzubinden, funktioniert hier aber musikalisch nicht gut, finde ich. Gesungen würde wahrscheinlich besser gehen, aber da die punktierte Note verklingt, kapiert man das als Hörer nicht gut. Und fürs Atmen zwischen den Achteln ist die Zeit zu kurz.
Wäre das eine Viertel ohne Punkt, würde es für mich passen. Ich will mich natürlich nicht über Brahms erheben 😜 aber es geht ja scheinbar sehr vielen ähnlich.
Das Pedal kommt ja dann auch noch dazu. Das müsste man dann sehr reduzieren, da kommt insgesamt ein ganz anderes Stück raus, nur wegen des kleinen Bogens 🤔
Das Beispiel von @SAW zeigt das ja sehr schön.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ok, jetzt hab ich das Beispiel gehört.
"Ein Bäcker Hierein Bäcker Daein Bäcker..."

nee - mir fehlt gerade die Fantasie.
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 1 Benutzer
1000000492.jpg


Was macht ihr denn mit dieser Stelle in Takt 3 und 4? Ich finde die Pause im Legatobogen plus Pedal verwirrend. Und hier habe ich schon öfter Aufnahmen gehört, die deutlich absetzen.
 
Ich spiele die Terz staccato, weil es mir besser gefällt, wohl wissend, dass es nicht so dasteht.
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 1 Benutzer
Ich habe immer das Gegenteil von @opa_albin gemacht: Die Achtel auf der 2 vom Folgenden zwar abgesetzt, aber so, dass sie noch irgendwie in Verbindung steht. Quasi so, dass ein Hauch über die Pause bestehen bleibt.

Kern der Sache ist m.E. ebenfalls, dass ein Staccato vermieden werden soll. Du kannst es vielleicht auch als Legatobogen sehen, aber sinnvoller vielleicht als Phrasierungsbogen.
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 2 Benutzer
@opa_albin Du meinst ähnlich Yuja Wang? Mir gefällt, wie Evgeny Kissin das Stück spielt, ganz mein Chopin & Romantik-Clichée. :D

Gruß Claus
 
  • Gefällt mir
Reaktionen: 1 Benutzer
So wie es Brahms nicht geschrieben hat, wäre es aber nach meiner Auffassung viel organischer.
geht mir auch so. Dann sind die vergleichbaren (4-5stimmigen) Stellen (nach Klammer 2) natürlich auch so zu spielen
 
Hi,

der Bindebogen (Legatobogen) gibt ja an, dass mehrere Noten nacheinander und ohne Pause gespielt werden. Dies geschieht beim Klavierspielen doch sowieso, solange keine Pausen zwischen den Noten oder Staccato-Punkte an den Noten stehen, oder?

Ist der Bindebogen für ein Klavierstück somit nicht unnötig?

VG
Stalli
Hi, interessante Antworten auf eine einfache Frage. Aber niemand hat mal gefragt, worauf 'Klavier' gespielt wird und ob die im Verlauf erwähnten Spielnuancen überhaupt auf dem betreffenden Instrument spieltechnisch umsetzbar sind. Schon zu viel Halleffekt verdeckt den Unterschied von legato zu ungebunden, schlecht eingestellte Dämpfer oder 'soft release' machen unter Umständen gebundenen 'Wohlfühlklang'. Zuviel Reverb ist ja auch bei anderen Instrumenten mit Effektketten beliebt, klingt sooooo schön. Aber der Spieler kann keine Note wirklich legato spielen...
 

Ähnliche Themen


Unser weiteres Online-Angebot:
Bassic.de · Deejayforum.de · Sequencer.de · Clavio.de · Guitarworld.de · Recording.de

Musiker-Board Logo
Zurück
Oben