Für wen malt der Maler? Für wen schreibt die Lyrikerin?
Ich würde hinzufügen: Warum besteigen manche Leute Berge? Warum laufen manche Leute Marathon?
Vielleicht weil sie es können, und weil es nicht jeder kann, bekommen sie ein gutes Gefühl dabei.
Nicht jeder kann Lieder schreiben, und diejenigen, die es können, haben ein gutes Gefühl, wenn sie es wieder geschafft haben.
Ich muss Songs so schreiben, dass sie zunächst mir gefallen. Aber in der Hoffnung, dass einige genauso ticken wie ich
Klar - beim Erfolg im Liederschreiben spielt der Geschmack eine große Rolle. Und wie ein Koch muss sich der Songschreiber in erster Linie auf seinen eigenen Geschmack verlassen. Die Geschmäcker "da draußen" sind so divers!
Meine besten (und zugleich erfolgreichsten) Texte entsprangen persönlichen Highlights
Auch klar: Texte kommen eher an, wenn die wahrhaftig sind - und wahrhaftig kann man eher über Sachen berichten, die man selbst erlebt hat.
Bei mir spielen alle diese Faktoren mit rein. Was noch fehlt, ist der konkrete Anlass zu einem neuen Lied. Das kann sein, wie bei
@Jongleur, ein heftiges Empfinden, dem ich Ausdruck verleihen will; sozusagen eine verbale Aufarbeitung von Liebe, Trauer, Erfolg oder Absturtz. Ich schaffe dann eher einen Liedtext als einen Roman oder ein Gemälde, weil ich eben Sänger bin, und der Gesang halt meine Sprache ist.
Aber auch ein direkter Auftrag kann der Anlass sein. Wie z.B. im Falle meiner Irish Folk Band, wo ich der einzige Ire war. Meine Kumpels meinten, wir müssten ein Lied über meine Geburtsstadt im Repertoire haben - aber Google gab nichts her, wo "Ballymena" in einem Songtitel erscheint. Also habe ich ein Lied geschrieben, in dem ich all meine Kindheitserinerungen an die Gegend verarbeitete. Es wurde zum gern gehörten Stück!
Ein andermal rief mich ein Kunde an und meinte, ich sei neben Übersetzer auch Musiker, und könnte ich einen englischen Songtext für seine Tochter schreiben? Es ging um die Teilnahme in einer nationalen Ausscheidung für das Eurovision Song Contest. Einen Komponisten hätte sie schon. Das Thema sollte "Lampedusa" sein. Ich wimmelte ab, sagte, ich hätte nichts mit Popmusik am Hut, und da wären andere geeigeter als ich. Das nahm der Kunde hin. ... Allerdings fing das Thema "Lampedusa und Migration" an, in mir zu gären, und innerhalb weniger Tage entstanden Text und Musik zu einem ganz netten Lied über ein Problem, das mich bis dahn nur am Rande beschäftigt hatte.
Oder als verliebter Student, der sich darauf freute, am nächsten Tag ein Date mit der Freundin zu genießen, wollte ich nur ausdrücken, wie sehr mich ihre Gegenwart freute und wie sehr die Trennung schmerzte. Es entstanden wieder Text und Melodie.
Einmal war es ein Gemälde, das mich anregte. Es war "The Lament" von Bourne-Jones, und ich griff den Titel auf und schrieb ein Klagelied.
Aber auch spontan einfallende Wortspiele können der Auslöser sein. In einem Fall ergab so ein Wortspiel ein Liebeslied. Ganz abstrakt. Doch viele Jahre später befand ich mich in einer emotionalen Situation, die den Anlass zu diesem Text hätte sein können!
Dann gibt's natürlich die Geburtstagsständchen. Man kennt das Geburtstagskind und flicht seine Charakteristika in Verse, die zu einem bekannten Melodie passen. Einmal bin ich darüber hinausgegangen und habe Text und Musik eines Ständchens geschrieben. Die gehuldigte war meine Schwiegermutter, und der Song wird immer noch von jüngeren Familienmitglieder bei Familientreffen gewünscht!
Kurzum, es gibt vielfältige Anlässe, ein Lied zu schreiben. Genauso wie bei Gesprächsbeiträge: ein Thema kommt auf, und dir fällt eine Aussage dazu ein; einer stellt eine bestimmte Frage, und du antwortest; man hört eine Nachricht, und du reagierst darauf; du sitzt still bei jemandem, und dir fällt plötzlich etwas ein, was ihn vielleicht interessieren könnte; ihr betrachtet zusamen ein Naturschauspiel, und du gerätst ins Schwärmen; u.v.a.m.
Bloß, als Sänger und Lyriker machst du ein Lied daraus!
Cheers,
Jed