Hier in der Diskussion lese ich zu oft, dass die Ausführung klassisch-romantischer Musik mit Noten verknüpft wird. Aber das, was Musiker und Zuhörer bewegt, ist bei keinem Musikstil und keinem Konzept wirklich notierbar: Noten geben klassisch-romantische Musik genauso oberflächlich und unzulänglich wieder wie einen notierten Popsong.
Notentranskriptionen selbst von Stücken von Jean-Michel Jarre oder Vangelis sind nichts weiter als schriftliche Kapitulationserklärungen vor der Unmöglichkeit, solche Musik gleichzeitig mit denselben Mitteln wie eine klassische Symphonie und der Präzision und dem Detailgrad wie bei einer klassischen Symphonie auszunotieren.
Ich würde es nicht so hart als Kapitulation beschreiben, denn niemand hat je behauptet, Jean-Michel Jarres Musik oder eine klassische Symphonie seien überhaupt oder sogar präzise notierbar. Symphonien werden zwar notiert - das heißt aber nicht, dass Noten eine besonders genaue Beschreibung darstellen, was passieren soll. Musikalische Ideen wurde halt früher in Schriftsprache überführt, um sie transportierbar und verwertbar zu machen, aber Noten waren da immer nur Mittel zum Zweck. Und besonders präzise oder detailgetreu waren sie nie.
Was viel, viel wichtiger ist: Noten stellen ein extrem
produktives Abstraktionsmittel von musikalischen Ideen dar, mit dem kompositorische Ideen
eine Interpretationsgeschichte bekommt. Nur wenn Musik als Noten (und damit ziemlich rudimentär) vorliegt, ist der Musiker gefordert, mit eigenen interpretatorischen Ideen heranzugehen und das Stück in den Kontext seines eigenen Lebens, seiner Zeit, seines Instruments, seines Raums und seiner Zuhörer zu stellen.
Nimmt man dagegen eine Aufnahme als Vorlage, muss man erstmal selbst trennen, was musikalisches Konzept des Komponisten/Songwriters ist und was Ausführungsentscheidung des Musikers ist. Immer wieder schön zu sehen, wenn z.B. Soul-Popsongs nachgesungen werden und der/die Sänger*in entscheiden muss, ob er/sie die ganzen Verzierungen von Whitney oder Mariah nachsingt oder nicht. Wollte man Jean-Michel Jarre nachspielen, muss man sich Ähnliches überlegen, d.h. man muss entscheiden, was für einen selbst wichtig ist und was man selbst anders macht. Damit macht man den entscheidenden Schritt zu einer Abstraktion von Musik, der in Noten halt schon passiert ist.
Die wahren "Noten"fanatiker sind die Coverbands, die alles supergenau nachspielen wollen, wie es auf einer Aufnahme vorliegt, und das zu 100% natürlich nie erreichen. No offense intended, Martman, ich weiß, dass das dein Thema ist, und ich spiele auch gerne Musik sehr genau nach (nach welcher Vorlage auch immer). Aber sowohl Noten als auch Aufnahmen zeigen uns Musikern, dass Interpretation erst dann losgeht, wenn man beides überwindet und eine eigene Aussage findet.
"Geil ab[ge]liefert", bitte.
Das ist eh die Hauptsache, egal welcher Stil!