Hallo! Ich bin Legasthenikerin und Musikerin. Ich studiere gerade Musikerziehung (hauptfach Pop-Gesang) und bin zu diesem Forum durch das Team von "barrierefrei studieren" an meiner Universität gekommen, wo ich mich gemeldet hatte, weil ich afgrund der Legasthenie starke schwierigkeiten vor allem im Klavierunterricht gekriegt habe.
Hier ein paar von den Sachen, die ich über die Jahre gemerkt habe, die mir schwerfallen und anderen Menschen keine Probleme dabei haben (und ich muss sagen, meine Lehrer sind immer verwirrt wenn ich ihnen sagen, dass ich solche Schwierigkeiten habe, denn sie mich meistens für eher begabt halten).
1) Ich kann extrem schlecht Blattspielen und Blattlesen! Das ist für mich eine richtig größe Hürde und habe Probleme damit auch wenn ich den Stück schon öfters gespielt habe und sogar gut kenne. Ich lerne die Stücke sehr schnell auswendig und erst ab den Zeitpunkt wo sie komplett im Kopf sind, kann ich diese durchgehend flüssig spielen. Das "überall einsteigen" funktioniert bei mir nur, wenn ich mich davor intensiv damit beschäftigt habe bei jedem Takt anzufangen und die Musik (halt wie der Takt klingt) und die Position vom Takt in dem Blatt meiner Noten auswendig kann. Wenn mir jemand aber eine andere Ausgabe gibt, wo der Takt dann doch wo anders liegt, bin ich wieder komplett verloren.
2) Zur Thematik des Gemeinsamspielen beider Hände kann ich mich nur anschließen. Ich spiele schon seit 12 Jahre Klavier und kann schon sehr schwierige Stücke spielen (zum Beispiel den 2. Estampe von Debussy), und trotzdem, wenn ich ein Stück neulerne, kann ich zwar die getrennte Hände mühelos spielen, aber wenn sie gemeinsam gespielt werden sollen, dann ist es so, als ob ich den ganzen Prozess von Vorne beginnen muss.
3) Zu Notenlesen und die richtige Note im Notenpapier finden: Ich tue mich sehr schwer damit, wenn ich zum Beispiel von Violinschlüssel plötzlich auf Bassschlüssel wechseln muss. Natürlich ist auch das ein Teil meiner Schwierigkeit mit Blattlesen, denn da muss ich beides sogar gleichzeitig machen... Auch die Lagenwechsel in Instrumente fallen mir schwer. Ich spiele Barrocke Blockflöte und kann mich erinnern wie schwer es war, als ich zur Sopran-Flöte die Alt-Flöte dazunahm. Ich habe sowohl dafür, als auch als ich Bassschlüssel lernte jeweils einen home-made Memory-Spiel hergestellt um die Neue Lage/neue Notenbilder zu lernen und habe diesen Monate gespielt, bis es endlich besser wurde. Trotzdem muss ich, wenn ich Blockflöte spiele nochimmer vor dem Stück mich beruhigen und denken "Ich spiele jetzt Sopran/Alt" damit ich irgendwie in diese Lage gedanklich drinnen bin.
4) Akkorde in den Noten für Klavier zu lesen hat lange gebraucht, denn ich musste mehrere Töne gleichzeitig lesen und so auf mehrere Melodie-Linien achten. Mittlerweile habe ich die Strategie, wenn ich ein Stück spiele mit mehere Akkorde, dass ich beim lernen des Stückes immer eine Akkordanalyse mache, um mir schneller merken zu können welche Akkorde wan kommen und leichter wissen welche Töne da gezeichnet sein müssen, wenn ich dann das Stück nach Noten lese. Andererseit war das Lernen von Leadsheets nie ein Problem, denn ich wusste welche Noten welche Akkorde entsprachen und ich musste dann diese einfach am Klavier spielen. Ich gebe Gesangunterricht und da begleite ich immer meine Schüler am Klavier und lerne deswegen jede Woche fast neue Lieder am Klavier, dennoch sind alle aus Leadsheets und das geht wunderbar.
5) Modulationen und viele Vorzeichen haben mich immer Probleme verursacht. Viele Vorzeichen bedeuten eine Änderung der Bilder, die ich mal als Noten lernte. Wenn bei den Vorzeichen der Tonart 3 Kreuze gibt, dann heißt es dass beim ganzen Stück zum Beispiel jeder "f" eigentlich ein "fis" ist. Dennoch ist das Kreuz nicht vor den "fis" in den Noten gezeichnet, sondern ganz am Anfang der Zeile. Es ist eine Änderung des Bilds dass ich mir mal gemerkt habe, ohne direkt daran erinnert zu werden, dass diese Änderung existiert. Prinzipiell hat jeder dieses Problem, aber für mich war das noch schlimmer, denn ich habe mich für jeden Takt so sehr konzentrieren müssen, dass zu dem Zeitpunkt dass der "fis" kommt, ich schon vergessen habe, dass es ein "fis" sein soll. Modulationen sind eine Stufe schwieriger, denn ich habe den ganzen Stück daran denken müssen dass es einen fis gab und mittlerweile habe ich es endlich im Kopft, dass jeden mal wo ich ein "f" sehe, ist es ein "fis". Plötzlich moduliert das Stück und diese "Regel" in meinem Kopf ist nicht mehr gültig. Jetzt muss ich mich daran konzentrieren doch KEIN "fis" zu spielen. Und wenn es noch dazu eine Modulation von Kreuze auf Bs ist, dann ist es noch schlimmer, weil dann muss ich mich nicht nur merken welche Töne einen Vorzeichen haben, sondern noch dazu muss ich mir merken dass es keinen Kreuz ist, sondern ein B...
6) Ich habe mir immer die Fingersätze gemerkt, weil für mich war es einfacher eine Zeile mit Nummern zu lesen, als ein Bild mit mehrere Linien (wo ich sowieso immer Probleme hatte zu erkennen ob das die 2. oder 3. Linie war), wo Kugelchen, die alle gleich ausschauen, mit sagten was für einen Ton das war. Ich habe mir die Position der Hand gemerkt und dann die FIngersätze gelesen. Das war viel leichter!
Zu den Positiven:
1) Ich habe einen unglaublichen Verständniss der Verläufe Melodien, weil diese mir immer Anhaltspunkte in den Noten gegeben haben, wo eine Phrase beginnt und endet.
2) Ich habe ein tolles Gedächtniss entwickelt durch das Auswendiglernen der Stücke.
3) Ich habe zwar kein absolutes Gehör, aber ich kann mir Klänge und Töne irsinnig gut merken, weil das mein Einhaltspunkt immer war um zu wissen ob ich gerade das richtige spiele.
4) Mein Verständnis über Harmonielehre ist extrem gut, weil ich die Stücke durchanalysiere um sie überhaupt lernen zu können.
5) Ich merke mir Mustern bei Fingersätzen viel schneller, weil ich sie mit als Bilder merke, die mir dann helfen die Stücke auswendig zu lernen.
6) Ich lerne die Stücke viel schneller auswendig und bid dadurch nicht abhängig von den Noten.
7) Ich habe mehrere Strategien entwickelt um Stücke zu lernen und über mögliche Probleme hinweg zu kommen.
8) Ich habe eine besondere Stärke an Rhythmuslesen entwickelt, weil der Rythmus die eine Sache war, die ich schnell ohne viel nachzudenken lesen konnte (Rhythmus ist nur auf eine Ebene, abhängig von der Form der Figur und nicht von der Position derselbe auf der y-Achse). Heutzutage spiele ich Rhythmen sogar genauer als manche Klavierlehrer.
Tipps für Lehrer:
1) wenn ihr merkt, dass euer Schüler die Stücke viel schneller lernt, wenn ich kleine Passagen vorspielt (wo sie die Fingersätze und Töne sehen und hören können), als wenn ihr ihnen bietet es vom Blatt zu spielen, dann hat der SchülerIn entweder noch Probleme mit der Notation, oder vielleicht ist er/sie auch LegasthenikerIn.
2) Gibt den Schülern nicht zu viele Stücke gleichzeitig zum lernen.
3) Wartet bis der Schüler ein Stück von vorne bis hinten spielen kann, bevor ihr ein neues Stück gibt.
4) Wenn der Schüler bei eine bestimmte Stelle lange Zeit scheitert, fragt nach was das Problem ist und versucht es mit ihm/ihr zu erarbeiten. Bei mir lag es oft an entweder zu viele Noten gleichzeitig, schnelle Modulationen, zu viele Vorzeichen oder Schlüssel-Wechsel.
5) Übt mit den Schülern die Skalas durch, dass sie lernen genau welche Vorzeichen jede Skala hat (und macht es so, dass ihr sicher sein könnt, dass sie nicht einfach den Fingersatz gemerkt haben)
6) Macht mit den Schülern eine gescheite Rhythmusmethode durch, sodass sie eine Stärke im Rhythmus finden und sich beim Notenlesen nur noch auf die Noten selber konzentrieren können, ohne zusätzlich auf dem Rhythmus aufzupassen.
Im allgemeinen:
Ich weiß das klingt für Leute die keine solche Schwierigkeiten haben ganz verrückt und man könnte denken, dass ich sicher ur schlecht spiele, denn wie kann jemand mit hohem Niveau am Klavier nochimmer mit solche Probleme kämpfen, aber das ist mein Leben. Ich kann euch versichern, dass ich gut spiele, denn ich habe bei der Zulassungsprüfung an einer sehr renomierten Musikuniversität fast voller Punktezahl am Klavierteil gekriegt. Man kann auch ein toller Musiker sein und solche Probleme haben. Ich war zum Beispiel die beste Zulassungsprüfung meines Jahrganges. Deswegen bitte ich euch darum nicht an eure Schüler aufzugeben, wenn solche Schwierigkeiten auftauchen und hört auf sie! Wenn sie eure Hilfe brauchen und motiviert sind, sucht Wege sie zu unterstützen, denn sie könnten großartige Musiker werden, aber sie brauchen Strategien um das zu schaffen. Ich hoffe meine Erfahrungen und Kommentare sind hilfreich für euch!