Die "heilige Taktmitte"

Nein, das sollte es wohl nicht. Aber das ist dann wenigstens eindeutig ein Fehler, und nicht weiter intepretationsbedürftig ...
Richtig, wobei an diesen Fehlern meist nicht die Komponisten Schuld sind. Zumindest dann nicht wenn sie ihr Stück selber einmal gespielt haben und wissen was sie tun, zumal Notationssoftware so was eigentlich auch nicht erlaubt. So was passiert meist im Verlag wo das ganze als Rohdaten angepasst wird. Da sitzen Leute die Profis in der Datenkonvertierung sind, aber keine Ahnung von Noten haben. Dann wird ein Notenwert mal schnell verändert.

Ich habe selber einmal in einem Verlag gearbeitet und wenn ich dort aus gelieferten Bilder von hoch komplexen mathematischen Formeln ein MathType erstellen soll, dann ist die Chance hoch bei Zeichen die ein normaler Mensch niemals im Leben zuvor gesehen hat einen falschen Strich auswählt und es auch denen in der Endkontrolle die genau so unwissend sind nicht auffällt. Der Leser/Schüler fragt sich dann was das für ein Mist ist...
 
ich kann noch eine Eselsbrücke anbieten...

wenn ich auf die Schnelle was transkribiere, dann habe ich sicherlich Variante 1 dastehen.
ABER: ich habe dann oben drüber eine kleine Einheit (z.B. Achtel) durchgängig dastehen als Ordnungssystem. Das stellt zuverlässig die Taktmitte dar und auch optisch den genauen Bezug in der Rhythmik, hat musikalisch aber sonst keinen Sinn.

Wenn ich es ins Reine schreibe, dann in Variante 2.
 
Doch. Nämlich automatisch dann, wenn ich davon ausgehen muß, der die Notenleser weder wissen, was die Clave ist, noch, was eine Taktmitte, ein Metrum oder ein Puls ist.

Ja - aber für die gelten doch dann wenigstens die implizit erfassbaren Regeln der CWMN, zu denen es eben gehört, dass der 4/4 eine "Taktmitte" hat. Diese Regeln werden bereits durch das Schriftbild manifestiert - auch wenn man sie explizit nicht kennen muss. Einen "Dreiklang" kann ich im Notenbild auch identifizieren und adäquat realisieren, wenn ich nicht einmal den Begriff dafür kenne.
Einem Legastheniker lege ich doch auch keinen Text vor, bei dem ich Rechtschreiberegeln einfach ignoriere, weil er Verstöße dagegen möglicherweise nicht bemerkt!

Dass die "Common Western Music Notation" Normcharakter erlangt hat, besagt doch nicht, dass sie stilistisch neutral ist. Diesen Anspruch kann sie nämlich spätestens dann schon nicht mehr erfüllen, wenn sie ihre Unzulänglichkeiten in der Verschriftlichung von musikalischen Praktiken offenbart, die nicht dem eurozentristischen Kanon angehören. Sie ist die Schriftform einer dereinst europäisch fundierten Hochkultur, und bereits durch deren globaler Überlegenheitsideologie alles andere, als neutral.
 
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Ja - aber für die gelten doch dann wenigstens die impliziten Regeln der CWMN, zu denen es eben gehört, dass der 4/4 eine "Taktmitte" hat
Genau das stelle ich eben in Frage.

Aber ich beuge mich in dieser Angelegenheit gerne der Mehrheitskonvention und werde in Zukunft bei Noten, die nicht ausschließlich für mich selber bestimmt sind, die (für mich umständlicher erscheinende) Variante 2 verwenden.

Danke nochmals für Euer Feedback.

Thomas
 
Genau das stelle ich eben in Frage.

Dann musst du nicht bei der Notation ansetzten, sondern bereits bei den Takttheorien der Neuzeit, z.B. bei Kirnbergers unterschiedlichen Typen des 4/4-Taktes. So hat die Taktmitte nämlich auch eine formale Funktion - im 4/4 kann sowohl auf 1, als auch auf 3 schlussbildend kadenziert werden, was die Notationskonvention lediglich widerspiegelt.
 
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Äh ... nein. Muss ich nicht.

Das kannst du selbstverständlich halten, wie es dir beliebt.
Denn es ist letztlich auch völlig egal, was du infrage stellst, wenn du dein Handeln oder Unterlassen ohnehin entweder nach deinem ureigensten Gusto gestalten möchtest, oder eben - zwar murrend, aber immerhin im Gleichschritt - von "Mehrheitskonventionen" abhängig machst.
Mit "infrage stellen " im Sinne eines Hinterfragen von Ursache und Wirkung hat das dann allerdings nichts mehr gemein.
 
Muss mich grad mal für dieses Thema bedanken, wodurch ich erstmalig von der Berklee Contemporary Music Notation erfahren habe. Da ich auch immer wieder mal vor ähnlichen Fragen stehe, habe ich mir gleich ein Exemplar bestellt und heute erhalten. Zwar sind diese Konventionen alle in Sibelius berücksichtigt, aber man lernt doch immer dazu. Zu wissen, weshalb ein Tool Dinge macht, kann ja auch hilfreich sein.
 
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Ebenso! Hab mir das Ding gleich mal bestellt ...
 
Doch. Nämlich automatisch dann, wenn ich davon ausgehen muß, der die Notenleser weder wissen, was die Clave ist, noch, was eine Taktmitte, ein Metrum oder ein Puls ist.
Exakt deshalb ist es ja so wichtig, daß der Notensetzer das stilistisch richtig setzt: weil es beim Lesen einen Unterschied macht.

Wenn das ganze Stück wie 1 gesetzt ist ist klar, hier ist ein Latino-Rhythmus oder sowas drunter, und damit ist das Konzept Taktmitte einfach nicht da. Wenn das ganze Stück wie 2 gesetzt ist hat man halt was Europäïsches. Wenn nur ein Takt zwischen ein paar anderen wie 1 gesetzt ist stolpert man, ob erfahren oder unerfahren im Notenlesen.
 
Wenn das ganze Stück wie 1 gesetzt ist ist klar, hier ist ein Latino-Rhythmus oder sowas drunter, und damit ist das Konzept Taktmitte einfach nicht da. Wenn das ganze Stück wie 2 gesetzt ist hat man halt was Europäïsches.

Ein europäisches Klangergebnis hat man automatisch, wenn europäisch gebildete (Laien-)Musiker (Latin-)Rhythmen produzieren. Nur ganz wenige von uns werden so tief in südamerikanischen Rhythmen drinstecken, dass authentisch notierte Rhythmen auch authentisch klingen. @CUDO II würde ich das zutrauen, mit seinem extensiven Salsa-Background.

In allen anderen Fällen ist doch die Situation, dass das Einhalten der Taktmittenregel (=keine Notenwerte über die Taktmitte hinweg) eine dramatische Vereinfachung der möglichen rhythmischen Patterns bewirkt. Das hat pädagogisch/didaktisch absolut Vorteile. Deswegen bin ich ein Verfechter dieser Regel, weil damit mehr Menschen in kürzerer Zeit besser das Lesen von Rhythmen erlernen.

Damit es anschaulich wird: in einem 2/4-Takt gibt es durch Kombinatorik nur 8 mögliche Rhythmuspatterns, wenn wir maximal bis zur Achtelnote auflösen und Pausen und Überbindungen in den nächsten Takt erstmal ignorieren:

Achtelrhythmen.jpg

Man kann diese Rhythmuspatterns auch so herleiten, dass zwischen den 4 möglichen Achtelpositionen bis zu 3 Haltebögen stehen könnten. Jeder Haltebogen kann vorhanden oder nicht vorhanden sein, es ergeben sich 2^3 = 8 Kombinationen.

Einen 4/4-Takt kann man als eine Kombination aus zwei 2/4-Takten auffassen - aber nur dann, wenn man nicht Notenwerte über die Taktmitte hinweg schreibt. Wenn über die Taktmitte hinweg zwar ein Haltebogen, aber nicht ein Notenwert stehen darf, müssen Musiker nur die obigen 8 Kombinationen erlernen, um daraus kompliziertere Rhythmen mit Taktmittenüberbindung abzuleiten. Erlaubt man dagegen Notenwerte über die Taktmitte hinweg, ergeben sich bei 8 möglichen Achtelpositionen 7 Haltebögen, also 2^7=128 mögliche Rhythmuspatterns.

Die Taktmittenregel führt also zu einer sehr deutlichen Vereinfachung von zu erlernenden Patterns: 8 wenn man sie einhält gegenüber 128, wenn man sie nicht einhält. Okay, wenn man die 8 Patterns kann, muss man die mit Überbindungen über die Taktmitte danach noch erlernen, aber das ist dann ein vergleichsweise kleiner Lernschritt.

Die Taktmittenregel ist - wie alle Grammatik- und Rechtschreibregeln - eine Empfehlung, um sich auf der Basis gemeinsamer Kommunikationsregeln miteinander zu verständigen. Keiner muss sie befolgen, aber wenn man verstanden werden will, sollte man diese mit gutem pädagogischen Grund existierende Regel einhalten.



P.S. Nachtrag: "Viertel-Halbe-Viertel" widerspricht der Regel eigentlich, hat sich aber eingebürgert, das dürfte klar sein. Das liegt daran, dass die Taktmittenregel eigentlich ein Spezialfall der allgemeinen Notensatzregel ist, dass der kleinste Notenwert einer rhythmischen Struktur bestimmt, welche Einheit optisch zusammenhängend sein muss: die zusammenhängende Einheit ist immer zwei Notenwertebenen über der Ebene des kleinsten Notenwerts. Also: bei Achtelrhythmen bilden Halbe Noten die optisch sichtbare Einheitengrenze, und das läuft im 4/4-Takt nun mal auf die Taktmitte hinaus. Wenn die kleinste Einheit eine Viertel ist, ist die optisch zusammenhängende Struktur (=zwei Ebenen höher) die ganze Note - deswegen ist die Überschreitung der Halbe-Grenzen bei "Viertel-Halbe-Viertel" unproblematisch. Ist der kleinste Notenwert die Sechzehntel, ist die optisch zusammenhängende Struktur die Viertel, d.h. der längste Balken geht über die Dauer einer Viertelnote. Das wird alles nur gemacht, damit Musiker nur begrenzte Anzahlen an Rhythmuspatterns lesen lernen müssen.
 
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Aus eigener Erfahrung ist mir bei einer taktmittenüberschreitende Schreibweise in Latin Music nur dieser Fall bekannt:
Zwischenablage01.jpg

Zur Verwendung kommt das hauptsächlich in Bass-Charts.
Auch Arrangeure wie Oscar Hernández, Alberto Naranjo oder Marty Sheller halten sich an die allgemeinen Gepflogenheiten.
 
Es ist komisch/merkwürdig, daß ich genau diese Phrase im Kopf hatte, als ich das Thema
hier zum Thema machte.
In meinen Arrangements kommt diese Phrase öfter mal vor, auch im Nicht-Latin-Zusammenhang,
und irgendetwas in mir weigert sich, das anders als mit zwei punktierten Vierteln und einer normalen
Viertel zu notieren ... :)

Thomas
 

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