Wenn das ganze Stück wie 1 gesetzt ist ist klar, hier ist ein Latino-Rhythmus oder sowas drunter, und damit ist das Konzept Taktmitte einfach nicht da. Wenn das ganze Stück wie 2 gesetzt ist hat man halt was Europäïsches.
Ein europäisches Klangergebnis hat man automatisch, wenn europäisch gebildete (Laien-)Musiker (Latin-)Rhythmen produzieren. Nur ganz wenige von uns werden so tief in südamerikanischen Rhythmen drinstecken, dass authentisch notierte Rhythmen auch authentisch klingen.
@CUDO II würde ich das zutrauen, mit seinem extensiven Salsa-Background.
In allen anderen Fällen ist doch die Situation, dass das Einhalten der Taktmittenregel (=keine Notenwerte über die Taktmitte hinweg) eine dramatische Vereinfachung der möglichen rhythmischen Patterns bewirkt. Das hat pädagogisch/didaktisch absolut Vorteile.
Deswegen bin ich ein Verfechter dieser Regel, weil damit mehr Menschen in kürzerer Zeit besser das Lesen von Rhythmen erlernen.
Damit es anschaulich wird: in einem 2/4-Takt gibt es durch Kombinatorik nur 8 mögliche Rhythmuspatterns, wenn wir maximal bis zur Achtelnote auflösen und Pausen und Überbindungen in den nächsten Takt erstmal ignorieren:
Man kann diese Rhythmuspatterns auch so herleiten, dass zwischen den 4 möglichen Achtelpositionen bis zu 3 Haltebögen stehen könnten. Jeder Haltebogen kann vorhanden oder nicht vorhanden sein, es ergeben sich 2^3 = 8 Kombinationen.
Einen 4/4-Takt kann man als eine Kombination aus zwei 2/4-Takten auffassen - aber nur dann, wenn man nicht Notenwerte über die Taktmitte hinweg schreibt. Wenn über die Taktmitte hinweg zwar ein Haltebogen, aber nicht ein Notenwert stehen darf,
müssen Musiker nur die obigen 8 Kombinationen erlernen, um daraus kompliziertere Rhythmen mit Taktmittenüberbindung abzuleiten. Erlaubt man dagegen Notenwerte über die Taktmitte hinweg, ergeben sich bei 8 möglichen Achtelpositionen 7 Haltebögen, also 2^7=128 mögliche Rhythmuspatterns.
Die Taktmittenregel führt also zu einer sehr deutlichen Vereinfachung von zu erlernenden Patterns: 8 wenn man sie einhält gegenüber 128, wenn man sie nicht einhält. Okay, wenn man die 8 Patterns kann, muss man die mit Überbindungen über die Taktmitte danach noch erlernen, aber das ist dann ein vergleichsweise kleiner Lernschritt.
Die Taktmittenregel ist - wie alle Grammatik- und Rechtschreibregeln - eine Empfehlung, um sich auf der Basis gemeinsamer Kommunikationsregeln miteinander zu verständigen. Keiner muss sie befolgen, aber wenn man verstanden werden will, sollte man diese mit gutem pädagogischen Grund existierende Regel einhalten.
P.S. Nachtrag: "Viertel-Halbe-Viertel" widerspricht der Regel eigentlich, hat sich aber eingebürgert, das dürfte klar sein. Das liegt daran, dass die Taktmittenregel eigentlich ein Spezialfall der allgemeinen Notensatzregel ist, dass der kleinste Notenwert einer rhythmischen Struktur bestimmt, welche Einheit optisch zusammenhängend sein muss: die zusammenhängende Einheit ist immer zwei Notenwertebenen über der Ebene des kleinsten Notenwerts. Also: bei Achtelrhythmen bilden Halbe Noten die optisch sichtbare Einheitengrenze, und das läuft im 4/4-Takt nun mal auf die Taktmitte hinaus. Wenn die kleinste Einheit eine Viertel ist, ist die optisch zusammenhängende Struktur (=zwei Ebenen höher) die ganze Note - deswegen ist die Überschreitung der Halbe-Grenzen bei "Viertel-Halbe-Viertel" unproblematisch. Ist der kleinste Notenwert die Sechzehntel, ist die optisch zusammenhängende Struktur die Viertel, d.h. der längste Balken geht über die Dauer einer Viertelnote. Das wird alles nur gemacht, damit Musiker nur begrenzte Anzahlen an Rhythmuspatterns lesen lernen müssen.