Martman
Registrierter Benutzer
Bei der Alsterdorfer Sporthalle müßte man aber beispielsweise erstmal den Innenraum komplett umbauen, auf bestmögliche Akustik optimieren, koste es, was es wolle, und eine perfekt kalibrierte Highend-PA fest installieren.Also wenn ich in ein (Profi)-Konzert gehe, dann erwarte ich als Basisdienstleitung 100% handwerkliche Perfektion. Keine vergeigten Anfänge, vergessene Texte oder Breaks, kein Scheisssound. Wenn ein musikalische Experiment mal in die Hose geht, ok, das gehört dazu. Aber Grundanforderung an einen Profi ist die Anforderung wie an jeder anderen Profi (sei es Handwerker, Arzt oder Schuster).
Und absolute, 100%ige Totalperfektion in der Performance läßt sich nur auf zwei Arten erzielen:
- Vollautomation (geht bei der Musik selbst eigentlich nur zuverlässig, wenn sie elektronisch ist, und selbst dann ist 100%ige Reproduzierbarkeit schwierig)
- Vollplayback (zu Material, das vorher monatelang im Studio perfekt durchproduziert worden ist)
Vollautomation bzw. Vollplayback ist ja auch deshalb notwendig, weil die Lightshow perfekt synchron zur Musik ablaufen muß. Von Menschenhand ist das auch nicht machbar. Also muß die Lightshow automatisiert werden. Dann muß aber die Musik umgekehrt 100% garantiert perfekt synchron zur Lightshow sein. Auch das kann von Menschenhand nicht zu 100% garantiert werden.
Genau das war der Grund, warum Jarre zwei Jahrzehnte lang vor allem bei seinen großen Konzerten immer Studiospuren mitlaufen ließ (bzw. am Ende tatsächlich Vollplayback fuhr): Die Musik mußte zu 100% verläßlich synchron zur gigantischen Lightshow sein. Damals war die Lightshow noch nicht automatisiert, aber diejenigen, die sie bedienten, standen oder saßen auch mal hunderte Meter von Bühne und PA entfernt. Sie konnten das Konzert nicht richtig oder überhaupt nicht hören. Welches Stück gerade gespielt wurde und an welcher Stelle war, wußten sie nur von einem Timecode her. Heutzutage wäre das meines Wissens musiksynchron automatisierbar.
Jarres Konzert zur Jahrtausendwende an den Pyramiden von Gizeh war daher ein ursprünglich etwa drei Stunden langes Pro-Tools-Projekt mit einem unerbittlich durchlaufenden Timecode, in den alle Stücke (will sagen, die Studioaufzeichnungen fürs Album!) fest eingebunden waren. Trotzdem war es weit von Perfektion entfernt: Der Timecode mußte an einer Stelle verschoben werden, weil ein auf die Bühne gebrachter Plattenspieler mit einer Oum-Kalthoum-Platte nicht zur vorgesehenen Zeit funktionierte, ein Part fiel ganz raus, weil der Schlagzeuger Gary Wallis krank wurde, und über den Nebel, der zwischenzeitlich aufzog und die mit Licht und Projektionen angestrahlten Pyramiden verhüllte (die Lightshow ging meines Wissens trotzdem gnadenlos weiter, man sah sie aber nicht mehr), hatte man auch keine Kontrolle. Daher kann das perfekte Konzert nur indoors stattfinden.
Auch auf der Bühne dürfte es eigentlich keine Menschen geben. Wer da immer absolute Perfektion ohne auch nur den winzigkleinsten Makel erwartet, kann den nur erfüllt bekommen mit sowas wie einer 3D-animierten virtuellen Band, die auf eine Leinwand projiziert wird. Die wird dann zwar nicht mit dem Publikum interagieren können, aber auch die Interaktion mit dem Publikum kann ein Störfaktor sein.
Von einem Konzert, das von Menschenhand gemacht ist, kann man nicht erwarten, daß es ausnahmslos immer noch perfekter ist als ein offizielles Konzertvideo, wo das Videomaterial entsprechend geschnitten und womöglich nachbearbeitet und die Musik zu 90% im Studio nachträglich neu eingespielt oder gar gleich durch die entsprechenden Studiospuren ersetzt wurde.
Übrigens, um noch einmal auf Jarre zurückzukommen: Er hat pandemiebedingt die nächste Stufe der Perfektion erklommen. Seine letzten zwei Konzerte fanden in der Virtual Reality statt. Bis auf ihn selbst, der seinen Avatar mittels Performance Capturing steuerte, dürfte an deren Durchführung kein Mensch beteiligt gewesen sein – die Musik war schon auf Studioniveau gemischt, die gesamte Show natürlich vollautomatisiert ohne die Probleme, die man mit vollautomatisierten Lightshows im Real Life hätte. Es gab bei seinem letzten Konzert also nur zwei nichtdigitale mögliche Points of Failure: ihn und seinen kapriziösen Memorymoog aus den 80ern, den er wieder als Hauptkeyboard einsetzte (obwohl der in der Virtual Reality nicht nachgebildet wurde). Wieviel er selbst jetzt live per Hand gespielt hat, ist fraglich, aber es gab schon einige Stellen, die ein "menschliches Timing" hatten.
Der Sound war natürlich auch studiomäßig perfekt – oder sagen wir, so perfekt, wie Audiostreaming mit verlustbehafteter Kompression sein kann. Aber Probleme mit der Klangqualität der PA, ausfallenden Komponenten in Signalwegen oder Raumakustik hatte er nicht. Zu guter Letzt haben VR-Konzerte den großen Vorteil, daß man praktisch beliebig viele Probeläufe "vor Ort" machen kann, also an der Konzertlocation, bis sie wirklich perfekt sind. Und man kann sich für den Aufbau Monate Zeit lassen und dabei immer wieder testen, während man im Real Life mitunter nicht einmal eine Stunde für den Aufbau hat und gar nichts testen kann.
Martman