Perfektionswahn in der Musik - wie seht ihr das?

  • Ersteller Kasper666
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Also wenn ich in ein (Profi)-Konzert gehe, dann erwarte ich als Basisdienstleitung 100% handwerkliche Perfektion. Keine vergeigten Anfänge, vergessene Texte oder Breaks, kein Scheisssound. Wenn ein musikalische Experiment mal in die Hose geht, ok, das gehört dazu. Aber Grundanforderung an einen Profi ist die Anforderung wie an jeder anderen Profi (sei es Handwerker, Arzt oder Schuster).
Bei der Alsterdorfer Sporthalle müßte man aber beispielsweise erstmal den Innenraum komplett umbauen, auf bestmögliche Akustik optimieren, koste es, was es wolle, und eine perfekt kalibrierte Highend-PA fest installieren.

Und absolute, 100%ige Totalperfektion in der Performance läßt sich nur auf zwei Arten erzielen:
  • Vollautomation (geht bei der Musik selbst eigentlich nur zuverlässig, wenn sie elektronisch ist, und selbst dann ist 100%ige Reproduzierbarkeit schwierig)
  • Vollplayback (zu Material, das vorher monatelang im Studio perfekt durchproduziert worden ist)
Dann darf sowas nicht von Menschen gemacht werden. Von der musikalischen Darbietung über den Mix bis zur Lightshow muß alles komplett autark von Maschinen ausgeführt werden. Und man braucht für alles zwei bis drei Rückfallebenen, die so angeordnet und geschaltet sind, daß im Falle eines Ausfalls absolut (!) nahtlos gewechselt werden kann, so daß auch der High Functioning Asperger im Publikum mit Spezialgebiet Veranstaltungstechnik den Wechsel nicht bemerkt.

Vollautomation bzw. Vollplayback ist ja auch deshalb notwendig, weil die Lightshow perfekt synchron zur Musik ablaufen muß. Von Menschenhand ist das auch nicht machbar. Also muß die Lightshow automatisiert werden. Dann muß aber die Musik umgekehrt 100% garantiert perfekt synchron zur Lightshow sein. Auch das kann von Menschenhand nicht zu 100% garantiert werden.

Genau das war der Grund, warum Jarre zwei Jahrzehnte lang vor allem bei seinen großen Konzerten immer Studiospuren mitlaufen ließ (bzw. am Ende tatsächlich Vollplayback fuhr): Die Musik mußte zu 100% verläßlich synchron zur gigantischen Lightshow sein. Damals war die Lightshow noch nicht automatisiert, aber diejenigen, die sie bedienten, standen oder saßen auch mal hunderte Meter von Bühne und PA entfernt. Sie konnten das Konzert nicht richtig oder überhaupt nicht hören. Welches Stück gerade gespielt wurde und an welcher Stelle war, wußten sie nur von einem Timecode her. Heutzutage wäre das meines Wissens musiksynchron automatisierbar.

Jarres Konzert zur Jahrtausendwende an den Pyramiden von Gizeh war daher ein ursprünglich etwa drei Stunden langes Pro-Tools-Projekt mit einem unerbittlich durchlaufenden Timecode, in den alle Stücke (will sagen, die Studioaufzeichnungen fürs Album!) fest eingebunden waren. Trotzdem war es weit von Perfektion entfernt: Der Timecode mußte an einer Stelle verschoben werden, weil ein auf die Bühne gebrachter Plattenspieler mit einer Oum-Kalthoum-Platte nicht zur vorgesehenen Zeit funktionierte, ein Part fiel ganz raus, weil der Schlagzeuger Gary Wallis krank wurde, und über den Nebel, der zwischenzeitlich aufzog und die mit Licht und Projektionen angestrahlten Pyramiden verhüllte (die Lightshow ging meines Wissens trotzdem gnadenlos weiter, man sah sie aber nicht mehr), hatte man auch keine Kontrolle. Daher kann das perfekte Konzert nur indoors stattfinden.

Auch auf der Bühne dürfte es eigentlich keine Menschen geben. Wer da immer absolute Perfektion ohne auch nur den winzigkleinsten Makel erwartet, kann den nur erfüllt bekommen mit sowas wie einer 3D-animierten virtuellen Band, die auf eine Leinwand projiziert wird. Die wird dann zwar nicht mit dem Publikum interagieren können, aber auch die Interaktion mit dem Publikum kann ein Störfaktor sein.

Von einem Konzert, das von Menschenhand gemacht ist, kann man nicht erwarten, daß es ausnahmslos immer noch perfekter ist als ein offizielles Konzertvideo, wo das Videomaterial entsprechend geschnitten und womöglich nachbearbeitet und die Musik zu 90% im Studio nachträglich neu eingespielt oder gar gleich durch die entsprechenden Studiospuren ersetzt wurde.

Übrigens, um noch einmal auf Jarre zurückzukommen: Er hat pandemiebedingt die nächste Stufe der Perfektion erklommen. Seine letzten zwei Konzerte fanden in der Virtual Reality statt. Bis auf ihn selbst, der seinen Avatar mittels Performance Capturing steuerte, dürfte an deren Durchführung kein Mensch beteiligt gewesen sein – die Musik war schon auf Studioniveau gemischt, die gesamte Show natürlich vollautomatisiert ohne die Probleme, die man mit vollautomatisierten Lightshows im Real Life hätte. Es gab bei seinem letzten Konzert also nur zwei nichtdigitale mögliche Points of Failure: ihn und seinen kapriziösen Memorymoog aus den 80ern, den er wieder als Hauptkeyboard einsetzte (obwohl der in der Virtual Reality nicht nachgebildet wurde). Wieviel er selbst jetzt live per Hand gespielt hat, ist fraglich, aber es gab schon einige Stellen, die ein "menschliches Timing" hatten.

Der Sound war natürlich auch studiomäßig perfekt – oder sagen wir, so perfekt, wie Audiostreaming mit verlustbehafteter Kompression sein kann. Aber Probleme mit der Klangqualität der PA, ausfallenden Komponenten in Signalwegen oder Raumakustik hatte er nicht. Zu guter Letzt haben VR-Konzerte den großen Vorteil, daß man praktisch beliebig viele Probeläufe "vor Ort" machen kann, also an der Konzertlocation, bis sie wirklich perfekt sind. Und man kann sich für den Aufbau Monate Zeit lassen und dabei immer wieder testen, während man im Real Life mitunter nicht einmal eine Stunde für den Aufbau hat und gar nichts testen kann.


Martman
 
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Ich glaube, viele Fans erwarten, dass eine Band oder ein Musiker live exakt genau so klingt, wie auf CD oder im Radio und sind dann irritiert oder möglicherweise schwer enttäuscht.
Je mehr technische Hilfsmittel im Studio verwendet werden, um das eigene Geträller zu perfektionieren, desto schwieriger wird es für den Künstler dann bei einem Live-Konzert.
Natürlich bestätigen Ausnahmen die Regel: Hans Peter kräht einfach in sein Megaphon, wie viel der Fisch kostet und das Publikum rastet aus :D

Ich habe aber auch viele schöne Konzerte erlebt, die eben NICHT 100%tig perfekt waren, weil z.B. der Sänger seine neuesten Werke noch nicht vollständig auswendig konnte und daher einen Spickzettel
mit dem Liedtext vor sich auf die Bühne gelegt hat (hat er ganz offen zugegeben) oder mega-erkältet war, aber halt seine Fans nicht mit eine Absage enttäuschen wollte etc.
Ich war auf nem Konzert irgendeiner fürchterlichen Metal-Band, aber die Leute haben voll gefeiert - okay, es könnte auch an dem Freibier gelegen haben (der Sänger hatte Geburtstag und war daher spendabel) :D
Alles eine Frage des Anspruchs.
Was mich zu Madonna führt: Bei den Ticketpreisen, die mittlerweile bei solchen Superstars verlangt werden, würde ich zwar nicht die perfekte, aber doch eine ordentliche Show erwarten!
 
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NICHT 100%tig perfekt waren, weil z.B. der Sänger seine neuesten Werke noch nicht vollständig auswendig konnte und daher einen Spickzettel
mit dem Liedtext vor sich auf die Bühne gelegt hat (hat er ganz offen zugegeben) oder mega-erkältet war, aber halt seine Fans nicht mit eine Absage enttäuschen wollte etc.
War mal auf nem Gig von Bernard Allison. Er war zu erkältet, um so zu singen, wie es sein Anspruch war. Alle bekamen ihr Geld zurück. Er kam trotzdem „kurz“ auf die Bühne, um ein paar Songs wenigstens auf der Gitarre zu spielen. Wurden dann 1,5h…
 
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Ich habe aber auch viele schöne Konzerte erlebt, die eben NICHT 100%tig perfekt waren, weil z.B. der Sänger seine neuesten Werke noch nicht vollständig auswendig ………

Grönemeyer-Konzert, Herbert:
Mir wird ja nachgesagt ich nuschle. Das stimmt nicht, ich bin extrem textsicher!!!

Er hat dann aber zugegeben dass seine „offiziellen“ Texte für ihn eher Richtlinien sind und er jedesmal am Text improvisiert
 
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Also ich finde das ganz schlimm, wenn bei einem Konzert 100%ig alles stimmt, jeder Ton sitzt, jeder choreographierte Fußtritt usw. Ich mag das nicht. Konzerte sind für mich Livemusik, das ist der Moment, wo reale Menschen ihre Instrumente spielen. Dass da was schief geht ist für mich absolut normal und gehört für mich dazu. Was ich nicht verstehen kann, aber ich bin kein Tontechniker, wenn der Sound einfach so schlecht ist, dass ich das als Laie höre und mir denke, was macht der da? Auch der muss nicht perfekt sein, aber habe auch schon unterirdisch erlebt und das geht halt gar nicht, vor allem bei bekannteren Bands und größeren Locations, da kann man das erwarten. Und klar, wenn der Künster durchgehend keinen Ton trifft, egal ob Gesang oder Instrument, Einsätze verpasst, dass ist was ganz anderes, als wenn man sich mal verspielt oder versingt oder halt grad nen Song gesanglich nicht so auf die Reihe bekommet (Tagesform, Infekt, was auch immer). Ansosnten find ich das total witzig, wenn Sachen verhaut werden und die Künstler auf der Bühen dazu stehen. Wenn mal ein Song verhaut wird oder so, das ganze dann auf der Bühne mit Selbstironie aufgenommen wird, dann find ich das geil... und macht das Konzert zu einem einmaligen Erlebnis.

Wie gesagt, nix schlimmer, als wenn ich auf ein Konzert gehe, nen abgespielte Choreo und dazu Songs, die sich anhören wie auf CD. Ne, das geht für mich eher nicht, sag nicht gar nicht, aber mehr Spaß hab ich allemal, wenn das Ganze roh und ehrlich klingt und dazu können halt auch mal Hänger, Verspieler, Versinger oder sonstwas gehören.
 
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Wie gesagt, nix schlimmer, als wenn ich auf ein Konzert gehe, nen abgespielte Choreo und dazu Songs, die sihc anhören wie auf CD. Ne, das geht für mich eher nicht, sag nicht gar nicht, aber mehr Spaß hab ich allemal, wenn das Ganze roh und ehrlich klingt und dazu können halt auch mal Hänger, Verspieler, Versinger oder sonstwas gehören.
Gut auf den Punkt gebracht, genau so seh ich das auch.
Ich denke mir immer, echte Musik, Live Musik muss doch LEBEN, in diesem Moment, nicht nur technisch perfekt wiedergegeben werden ...
 
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Ich denke mir immer, echte Musik. Live Musik muss doch LEBEN, in diesem Moment, nicht technisch perfekt wiedergegeben werden ...
Ja, auch auf den Punkt gebracht. Ein lebendiger, realer Sound und der Live Moment, an dem man teilnimmt. Es gibt nix schöneres als Musik live zu erleben oder zu spielen. Also jetzt auf Musik bezogen. Für manche vielleicht auch generell :D
 
Bestes Beispiel: Die Ärzte - ich habe noch nie ein Konzert unter 3 Stunden erlebt und fast jedes Mal ändern die einfach die Texte (zumindest von den alten Krachern), improvisieren, blödeln rum und es macht einfach nur riesigen Spaß :)
 
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Richtig, das kann riesigen Spaß machen, wenn Bands das tun und es können auch super Situationen entstehen, wenn diverse Lieder aneinander gehängt werden.
Es gibt aber auch Zeitgenossen, die da kein Verständnis für haben und die keinen Spaß verstehen und die Lieder nur so "sein dürfen" wie sie mal notiert wurden. ;)
 
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Es gibt aber auch Zeitgenossen, die da kein Verständnis für haben und die keinen Spaß verstehen und die Lieder nur so "sein dürfen" wie sie mal notiert wurden.
Dafür gibts ja CDs, Surround Home System, aufbereitete Live Auftritte usw. :D
 
Also die Leute aus der eigenen Band zuhause an den Sessel fesseln?! :claphands:
 
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Ich hatte mich rein auf Zuschauer bezogen. :D :D :D Wenn die Band den Perfektionswahn hat, gut ,dann ist es halt so. Macht ja auch Spaß, sag ich ja nix. Hat alles seine Daseinsberechtigung :D
 
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