Nachdem ich durch
@gidarr auf diesen Thread aufmerksam gemacht wurde...
Es ist - wie immer! - gar nicht so einfach, weil (1) sich Musiker gegenseitig beeinflusst haben, immer und auch damals schon, (2) es eben erst seit den späteren 1920er Jahren Aufnahmen der etwas "ländlicheren" Gegenden gibt und somit wenig dokumentiert ist, (3) Genre-Grenzen durchaus fließend sein können, (4) ganz wenig in Notenform dokumentiert wurde. Schwierig wird's es meistens dann, wenn (5) eine Weigerung besteht, eigene vorgefasste Meinungen zu hinterfragen bzw. (6) aufgeschnapptes Halbwissen mit mehr Fakten unterfüttern zu wollen.
Es ist dokumentiert, dass frühe Blues-Musiker ein breites Spektrum an Songs draufhatten - sie waren bei Parties und Barbecues oft die Tanzkapelle, auch für weiße Feste. Es gibt die eine oder andere Songliste, wo ein bunter Mix an Blues, Ragtime, damaligem Pop, Country und allen möglichen "Schlagern" auftaucht. Man konnte also Vieles. Klar, dass da mal was hängen bleibt!
Dann die wechselseitige Beeinflussung "kirchlicher" und "weltlicher" Musik. Viel Blues-Musiker haben Gospel-Songs aufgenommen, einige in der Blues-Ecke einsortierte Kuenstler würden sich mit Händen und Füßen und der Bibel gegen diese Ecke wehren (Blind Willie Johnson beispielsweise), andere Musiker haben wegen des wiedergefundenen Glaubens irgendwann den Blues aufgegeben, und wieder andere ihr ganzes Leben mit beiden Seiten gerungen (Son House).
Und dann - man kann und darf es nicht ausklammern - das Thema "racial segregation" in den USA. Dies gibt der ganzen Musikdiskussion noch eine psychologisch-soziale Komplexität, die eine Diskussion in so einem Forum wie diesem hier oft sprengt. Die besten Blues-Foren, die ich so frequentiere, haben ganz klare Regeln über was geredet wird und über was nicht (Beispiel: das grandiose "Real Blues Forum" auf Facebook erlaubt ausdrücklich nur African American Artists, die in den einschlägigen Diskographien in der Kategorie Blues gelistet sind - nicht, weil die Leute dort andere Musik hassen, sondern um eine zielgerichtete und fokussierte Diskussion zu erlauben).
Ganz gute Beispiele - inkl. solcher, die in Richtung der Liste von
@Bholenath gehen! - finden sich auch in diesem Artikel:
Daraus gezogen dieses Beispiel, dass aus Unkenntnis der Plattenfirma Columbia heraus in der "Race Records" (=auf die schwarze Zielgruppe zugeschnittene) Serie herausgebracht wurde, obwohl die beiden Brüder eindeutig weiß waren (und damit eben in eine andere Genre-Schublade gesteckt worden wären).
Die Welt war eben schon immer nicht nur schwarz und weiß (um bei der Ausgangsfrage zu bleiben), sondern vielseitig schattiert und bunt.
Ich bin ein Freund der "Early American Music" insgesamt. Das ist der ganze Mix aus Blues, Gospel, Country, Folk, Hawaiian, Ragtime, Jazz, whatever ... da gibt es verdammt viel zu entdecken. Und klar, da gibt es auch durchaus Überlappungen. Was aber auch bleibt, ist eine deutliche Segregierung - den meisten "richtigen" Blues gibt's eindeutig von African American Artists, und fast alle Country-Aufnahmen von Weißen. Ist auch eine Marketing-Sache, Publikumsgerecht, den damaligen Einstellungen angepasst.
Wer wirklich auch nur ansatzweise Interesse an den Wurzeln der (aufgenommenen) frühen Amerikanischen Musik hat, dem sei die "American Epic" Doku absolut ans Herz gelegt, zusammen mit den dazu veröffentlichten Compilations und CDs.
Stand heute gibt's die auch auf YouTube (zumindest bei mir in UK), in DE sind die glaub' ich auf Arte gelaufen, auf DVD/BlueRay gibt es die auch. Absolute Spitzenklasse mit tollen Einblicken. Die in diesem Zusammenhang entstandenen "American Epic Sessions" geben tolle Einblicke in Musik und Technik von damals.
Die Links funktionieren Stand heute (12/05/2021) bei mir, keine Ahnung ob auch in DE...
Teil 1-3
The Sessions:
https://www.youtube.com/watch?v=M1Cdhv9eGsE
Und letztlich drei Aussagen, die vielleicht widersprüchlich klingen, die mir aber immer wieder sehr geholfen haben:
1) Wenn es mich berührt, ist mir das Label egal. Das ist meiner Meinung nach dann "gute Musik".
2) Wenn man mit Anderen reden will, sind Kategorien und Genres und Vergleiche unabdingbar.
3) Weiterentwickeln kann man sich nur, wenn man lern- und veränderungsbereit ist.