Ein Hiatus (dem Wortsinne nach eine Kluft) ist doch eine übermäßige Sekunde?
Da interpretierst du den Begriff im konkretenZusammenhang falsch: Grundsätzlich drückt "Hiatus" (was du ja korrekt mit "Kluft" übersetzt) eine Unterbrechung´aus, sei es in der Geologie (tektonische Spaltenbildungen) oder in der Phonetik. Ich verwende die Bezeichnung Hiatus bei "toten Intervallen" als tektonischen, also auf Formabläufe bezogenen Begriff, unabhängig vom bestimmten Intervallen. Und bei
I-IV // V-I ist IV-V ein "totes Intervall", weil I und IV, sowie V und I eine funktionale Einheit bilden, nicht aber IV und V (s.u.).
Wenn man Hiatus auf die überm. Sekunde bezieht, ist damit nicht das Intervall selbst gemeint, sondern seine Verwendung im traditionellen Tonsatz, die erst zu einem Hiatus führt:
Da das Intervall der ü2 als Melodieschritt im historischen Tonsatz vermieden wurde (weshalb bei Mollskalen mit leittönig erhöhter VII immer auch die VI zu erhöhen war, siehe"melodisch Moll aufw."), waren nur Melodiewendungen wie
f-e-
gis-a möglich (harmonisiert z.B. als Dm-Am-E7-Am), nicht aber e-
f-gis-a. Die eigentlich aufeinander folgenden Skalentöne f-gis mussten also in der Melodieführung "aufgespaltet" werden (f abwärts zum e // gis aufw. zum a), was zu einer Unterbrechung der eigentlich zu erwartenden Tonbewegung, also zu einem Hiatus führt.
Und bezogen auf die Kadenz I-IV-V-I besteht zwischen IV-und V keine unmittelbare Beziehung, da der erste Quintfall von der I zur IV kadenziert (also "weg von der Tonika"), der zweite von der V zur I ("zurück zur T") und es sich somit um zwei voneinander unabhängige Quintfall-Kadenzen handelt. "Tektonisch" gibt es keine Verbindung zwischen IV und V - dass man in der Tonsatzpraxis diesen "gedanklichen Spalt" durch eine sekundschrittige Stimmführung überbrücken kann, ist sozusagen nur Kosmetik und läßt auf klanglicher Ebene lediglich etwas zusammenwachsen, was eigentlich nicht zusammengehört.
Um aber z.B. in C-Dur einen F-Akkord
unmittelbar auf einen G-Akkord beziehen zu können (also ohne "Hiatus"), bedarf es einer entsprechenden satztechnischen Behandlung durch Hinzufügung der "charakteristischen Dissonanzen" (F mit Sexte =f-a-c-d) , die eine Umdeutung der IV5/6 zur II7 ermöglicht, die dann regulär im Quintfall zur V kadenziert.
Aus dieser, auf Rameau zurückgehende Umdeutung der weder stufentheoretisch, noch funktional legitimierbaren Akkordfolgen im
Sekundabstand (wie IV-V) zur II-V-Kadenz ist dann auch das heute übliche Modell der elementaren II-V-I-Progression im Jazz entstanden, deren konsequentes
backcycling die "große" (I)-IV-VII°-IIIm-VIm-IIm-V-I-Kadenz ergibt, die zugleich Grundlage der auf Quintschritten basierenden Stufentheorie ist.
... wenn man bedenkt, dass (...) reine Quinten neben der Prime/Oktave das natürlichste/harmonischste Intervall sind ...
... dann gehört man eben zu den "Physikalisten". Und über "musikalische Sektenzugehörigkeit" zu diskutieren, ist relativ unergiebig, zumal die anderen von dir aufgeführten "pro-Quinten-Argumente" zirkelschlüssig und somit nicht beweiskräftig sind.