Die Frage ob das Schwingverhalten ein Qualitätsmerkmal darstellt und wenn ja, was man gerne haben möchte, lässt sich nur mit "jein" beantworten.
Die bisherigen Äußerungen sind mir ein bisschen zu oberflächlich, daher hier ein paar Denkansätze, die bisher etwas vernachlässigt wurden:
Einige Diskussionsteilnehmer sagten schon, dass man "Schwingungen spüren" kann. Z.B. am Korpus. Absolut richtig, aber was genau spürt man denn da eigentlich?
--> Gehen wir einen Schritt zurück zur Physik:
Wenn wir eine Saite anschlagen, induzieren wir eine Schwingung, indem wir Energie aus unserem Finger auf die Saite übertragen: Wir lenken die Saite aus, bis zu einem Maximalpunkt, dann rutscht sie über den Finger und schwingt zurück, was in eine Auslenkung in die andere Richtung resultiert und wieder hin und her, bis die Energie "verbraucht" ist --> Yay, Schwingung.
In einem perfekten Szenario (keine Luftreibung und unendlich fest befestigt) würde die Saite unendlich lang schwingen. Das tut sie nicht. Warum? Reibung an den Luftmolekülen bremst ein wenig, aber vor allem wird die Energie weiter übertragen.
Nämlich über den Steg auf die Decke, die ihrerseits zu Schwingen anfängt und dann die Schwingungen auf Zargen und Boden überträgt.
Dieses gesamte System hat eine Rückkopplung. Das bedeutet, das es sich z.B. auf die Saitenschwingung auswirkt, was für ein Material die Decke hat und wie starr sie gearbeitet ist.
Hier kommen jetzt drei Punkte zum Spielen, die man beachten muss:
1) Die Saiten haben unterschiedlich viel Energie: Dicke Saiten haben mehr Masse, brauchen entsprechend mehr Energie zum Auslenken und können auch mehr Energie übertragen. (Generell tragen tiefere Töne immer mehr Energie).
Deswegen spürt man oft die Schwingungen des Korpus vor allem bei den tiefen Tönen. Simpler Test: Schlagt die tiefe E-Saite fest an und legt die andere Hand auf die Decke und spürt die Schwingungen. Dann schlagt ihr die hohe E-Saite an (so, dass es "gleich laut" wirkt) und fühlt die Schwingungen auf der Decke. Die Schwingung ist bei der tiefen E-Saite viel deutlicher wahrnehmbar.
Das heißt, dass Gitarren, die wir als "basslastiger" wahrnehmen meist viel mehr spürbare Schwingungen haben. Eine dicke Dreadnought wird immer "mehr schwingen" als die kleine Parlour. Einfach weil die tieferen Töne es einfacher machen die Energie wahrzunehmen.
2) Wenn nun Energie auf die Decke übertragen wird, wirkt sich das in Form von zwei Faktoren aus: Attack und Sustain.
Wenn meine Energie sehr schnell von den Saiten auf die Decke übertragen wird und diese "schnell anspricht", habe ich viel Attack. Die Energie ist dann aber weg und ich habe ein kurzes Sustain.
Andersrum: wenn meine Energie eher langsam auf die Decke übertragen wird, habe ich ein langes Sustain.. aber wenig Attack.
Im Grunde findet hier eine Dämpfung statt: Der Korpus dämpft die Schwingung der Saite, indem er Energie "klaut". Je besser er "klaut", desto schneller ist die Energie weg.
3) Je mehr Energie in Zargen und Boden geht und dort das Holz bewegt, desto weniger Energie verbleibt in der Decke und kann dort die Luft zum Schwingen anregen. Die Gitarre klingt dann also für den Zuschauer leiser, denn dieser hat vor allem die Decke als Projektionsfläche. Von den Zargen bekommt er quasi nix mit.
Jetzt kommt es sehr akut darauf an, was der Gitarrist eigentlich will:
Man bewegt sich in einem System aus verschiedenen Resonanzen, Attack, Sustain und vor allem auch Lautstärke und die Ansprüche unterschiedlicher Gitarristen können absolut unterschiedlich sein.
- Beispielsweise ein Konzertgitarrist (im Sinne von "jemand der wirklich Konzertgitarre in größeren Räumen (nehmen wir z.B. eine Kirche) spielt") möchte vermutlich, dass seine Zuschauer ihn auch weit hinten im Raum hören können.
Ihm ist wichtig, dass der Klang weit in den Raum projiziert wird, nicht dass er selbst viele Schwingungen spürt. Er möchte also wahrscheinlich eine Gitarre mit einer Decke die schnell anspringt und viel Energie in den Zuschauerraum abgibt, aber einen sehr steifen Korpus, der eben wenig Schwingungen (aka Energie) absorbiert, denn diese "Verluste" gehen alle auf Kosten der Zuschauer.
- Der Wohnzimmer-Blueser/Singer-Songwriter möchte möglicherweise eine Gitarre, die er selbst möglichst viel spürt, mit dicken Bässen die er auch beim Singen noch merkt.
- Der Stage-Gitarrist möchte möglicherweise eine Gitarre bei der der Korpus möglichst wenig schwingt, um Rückkopplungen zu vermeiden. Er sucht sich also möglicherweise eine sehr steife Gitarre, wo wenig Energie auf die Decke übertragen wird und vor allem die Saiten schwingen, weil diese ja den Tonabnehmer anregen (hier sind wir dann bei E-Gitarren, deren Klangerzeugungsprozess quasi diametral zu akustischen Gitarren ist, weil man möglichst WENIG Schwingungen auf den Korpus übertragen möchte, um eher Feedback zu vermeiden)
Jetzt kommt aber der Clou:
Dieses ganze System aus Schwingung, Dämpfung, verschieden steifen Teilen, die unterschiedlich schnell und viel Energie absorbieren und an verschiedenen Stellen weiterleiten, wirkt sich natürlich nicht auf alle Frequenzen gleichermaßen aus.
Es kann z.B. sein, dass meine Gitarre hohe Frequenzen wunderbar nach vorne projiziert, aber tiefe Frequenzen schluckt. Oder dass die Mitten gerade besonders stark die Decke anregen etc. Alle Möglichkeiten von Resonanzen verschiedener Frequenzanteile sind hier möglich. Je nachdem welche Hölzer verwendet werden, wie sie ausgearbeitet sind, welche Qualität sie haben, welche Form die Gitarre hat etc. Alles wirkt sich auf diese Schwingungen aus...
... Das Ergebnis nennen wir dann den "Klang" der Gitarre.
Und damit sind wir beim absolut subjektiven Teil der Geschichte angekommen:
Es kann sein, dass dir, lieber Leser, eine Gitarre total gut gefällt, die eben stark mitschwing.. oder eben gerade nicht.. und und und...
Es gibt also ein paar rationale Faktoren (Konzertgitarrist, der Projektion für die Zuschauer will, Stagegitarrist, der Rückkopplungen vermeiden will, etc)... aber letztlich ist das auch eine absolute subjektive Geschmacksentscheidung.
Daher (zurück zum Eingangssatz): Ist das Schwingverhalten einer Gitarre ein Qualitätsmerkmal?
Ja: Wenn man einen bestimmten Einsatzzweck hat, wo ein bestimmtes Schwingverhalten bevorzugt ist.
Nein: Wenn man eine Gitarre sucht, die man subjektiv als "gut" empfindet.
Also: "jein"