Mit Deiner Reaktion stehst Du keineswegs alleine da - viele an Transen gewöhnte Spieler sind erstmal erstaunt, wie sich der "warme Röhrensound" in der Realität darstellt.
Mein erster Kontakt mit Marshalls hinterließ moich damals gelinde gesagt etwas ratlos. Wo war denn der Sound, den ich von meinen Judas Prist- oder Iron Maiden-Schallplatten (ja, so lage ist das her...) kannte?
Ich denke, die Ursache liegt darin, wie weit die Hersteller heute beim Bau der Transistoramps gehen. Um einen solchen nicht nach kaputten Bauteilen oder einfach nur nach einem Fuzz klingen zu lassen, ist technisch doch einiger Aufwand vonnöten. Nicht zuletzt werden da im verzerrten Bereich viele Höhen rausgefiltert, die unangenehm klingen könnten. Außerdem wird mit vielen Gainstufen gearbeitet, Mitten geboostet und eine gewisse Kompression erzeugt, die bei vielen Amps ein durchaus angenehmes Spielgefühl erzeugt. H&K waren da aus meiner Sicht durchaus unter den Pionieren gut klingender Solid State-Technik.
Demgegenüber ist Marshall für einen bestimmten Sound bekannt, der schon auch einige Kratzbürstigkeit in sich trägt. In der Vorstufe der Zerrkanäle sind Kondensatoren eingebaut, die wie ein Bright-Schalter wirken, nur dass sie in diesem Kontext den relativen Zerranteil höherer Frequenzen und damit die Verzerrung im Höreindruck insgesamt anheben. Viele knipsen denn auch an diesem Kondensator einfach ein Beinchen hab, was das verhindert - und andere sagen, dass es dann auch nicht mehr nach Marshall klingt.
Die Grundfrage ist also nicht zuletzt, ob man auf den typischen Marshall-Rocksound steht oder eben nicht. Es hat ja seinen Grund, warum Santana keinen JCM800 spielt...
Ich persönlich finde, dass ein guter Transistor-Amp erstmal einfacher zu spielen ist. Das sind alles auch ein bisschen Gleichmacher, eben wegen der starken Vorfilterung und Kompression. Auf Dauer ist für mich ein guter Röhrenamp (oder mit leichten Einschränkungen ein entsprechendes Modelling der Top-Klasse) weniger ermüdend und reagiert sensibler und vielschichtiger auf das eigene Spiel. Ich vergleiche das gerne mit Fertiggerichten: Du weißt immer, wie es schmecken wird, und ordentlich Fett, Salz und Geschmacksverstärker befriedigen schnell die niedrigsten Instinkte. Nur wird das nie ein Essen sein, von dem man anderen auch mal vorschwärmt, weil es ein spannendes Geschmackserlebnis aus interessanter Aromen war, das sich immer mehr entwickelt hat.
Viel von der Wahrnehmung ist also auch beim Amp davon abhängig, dass man sich auf ihn einlässt. Ein guter Röhrenamp wird zu einem Bestandteil eines Gesamtinstruments Gitarre/Amp, das man auch in dieser Gesamtheit "spielen lernen" muss. Wo es vorher mitunter reichte, den Ton "irgendwie" zu spielen, klingt es jetzt vielleicht sogar etwas flacher und schriller, bis man den richtigen Anschlag und die Tonbildung im Griff hat. Das gilt insbesondere für das Spiel mit geringen Verzerrungsgraden. Hier wird man oft feststellen, dass ein erfahrener Gitarrist mit einer bestimmten Einstellung am Amp toll klingt und einen fetten Ton hat - dann stöpselt man sich selber am gleichen Amp ein und es will gar nicht recht klingen. Wenn man sich intensiver damit beschäftigt, findet man dann (hoffentlich) den richtigen "Druckpunkt", an dem man "den Amp spielt" und nicht nur mit ihm irgendwie die Gitarre laut macht.
Apropos laut: einen modernen Marshall muss man nicht mehr unbedingt auf mindestens 7 drehen, damit er klingt, aber ein bisschen Master braucht er schon, ehe er in die Puschen kommt. Ganz leise ist eher nicht so sein Ding, in dem Fall sollte man dann lieber einen Lastwiderstand bemühen, um die Endstufe wenigstens ein klein bisschen arbeiten zu lassen. Ich meine jetzt nicht bis zur satten Endstufenverzerrung, aber völlig unterfordert klingt so ein Teil mMn halt doch ein bisschen blutleer.
Will sagen: wirf die Flinte nicht ins Korn, arbeite mit dem Ding erst mal ne Weile. Versuche auch mal Amp-Einstellungen, die sich Dir vielleicht nicht unbedingt aufdrängen. Nimm z.B. mal einen der Zerrkanäle und schalte den Orange Mode ein, aber dreh das Channel Volume auf, lass aber Gain nur im untersten Bereich (1-2), Mitten voll, Höhen und Bässe eher zurückhaltend bei 4 oder 5 - und dann versuche, das mal zum Klingen zu bringen. Wenn ich schon bei der Klangregelung bin: die wirkt bei Röhrenamps meist deutlich anders als bei Transistoramps, die Regler werden hier gerne als "interaktiv" beschrieben.
Gemeint ist damit, dass die Regler immer im Zusammenhang miteinander stehen - ist z.B. der Höhenregler weit aufgedreht, reagieren Bass und Mitten anders. Will man einen mittigeren Klang, tut man gut daran, nicht einfach Middle aufzudrehen, sondern zuerst mal Treble zurück zu nehmen. Dreht man den Bassregler stark auf, gehen bei manchen Röhrenamps die Hochmitten deutlich zurück usw. Außerdem liegen die EQ-Regler zwar (im Gegensatz zu Fender und vielen Boogies) hinter der Verzerrung im Signalweg, aber es sind nur relativ wenige Bauteile dazwischen. Vereinfacht gesprochen haben die Einstelllungen der Klangregler durchaus auch eine gewisse Rückwirkung auf die vorausgegangenen Stufen.
Meine persönliche Erfahrung mit klassischen passiven Klangregelungen auf Röhrenbasis ist die, dass man mit einer Ausgangseinstellung auf 3 Uhr idR deutlich besser bedient ist, als wenn man alle Regler auf 12 Uhr stellt (was bei Transen meist durchaus gut funktioniert). Gerade die Treble-Regler haben oft auch erst in diesem letzten Viertel die deutlichste Wirkung, wo dann schon ein, zwei Millimeter viel bewirken.
Ich bin der Meinung, dass der JVM zwar vor allem die typischen Marshall-Sounds bringen soll (und das auch tut), aber doch um einiges vielseitiger ist als man auf den ersten Blick meint. Das gilt insbesondere, wenn man die Kanäle nicht so nach Schema F nutzt, sondern das Gain auch mal im Crunch-Kanal weit aufdreht oder den berüchtigten OD2 so weit zurück nimmt wie oben beschrieben. Also nix wie ran und fleißig an den Reglern gedreht! Wenn Du kannst, lass ruhig auch mal einen Kollegen ran, der mit Röhrenamps mehr Erfahrung hat, und hör Dir auch an, wie er dann drüber spielt.
Erst wenn das alles wirklich nichts bringen sollte und Du einfach nichts mit dem Marshallsound anfangen kannst, würde ich an einen Amp-Wechsel denken.
Gruß, bagotrix