Wie viel du da sieht, schockt mich als außenstehender.
Was "schockt" dich daran?
Wie gesagt: Ich spiele relativ lange, habe Gitarre an der Uni (auf Lehramt, das ist nicht ganz so krass, wie ein künstlerisches Studium, aber muss man halt auch erstmal machen..) studiert und hab über 10 Jahre als Gitarrenlehrer gearbeitet.
Natürlich entwickelt man da ein gewisses Verständnis von Komplexität des Stückes: Ich sehe die Griffe und kann grob sagen, was daran kompliziert ist.
Ein Beispiel: Nimm das Sungha Jung Video und halte es bei 2:16 an.
Da ist ein Griff, wo der Ringfinger die unteren drei Saiten abdeckt. Dazu muss er "gegen das Gelenk" geknickt werden. Das ansich ist schon eine recht fortgeschrittene Technik. Dazu wird aber gleichzeitig noch auf der zweitobersten Saite mit dem Mittelfinger gegriffen, was den Winkel für den Ringfinger nochmal komplizierter macht. Als wäre das noch nicht genug, wird der Zeigefinger zwei Bünde weiter eingesetzt, was eine Überstreckung ist (wenn man quasi einen Bund beim Greifen "überspringt"). Dazu müssen Zeigefinger und Ringfinger individuell sehr bewegbar sein und die Muskulatur für die Spreizung überhaupt erstmal aufgebaut werden. Diesen Griff wirklich schnell und so sauber aufzusetzen, dass wirklich alle Saiten sauber klingen ist echt schwierig.
Und das ist nur einer von mehreren wirklich anspruchsvollen Griffen in dem Song.
Ich hätte da noch ein Video selbe Stück, aber andere Person. Könntest du das bitte auch bewerten?
Wie mjchael schon sagt: Das ist nicht dasselbe Arrangement. Kann man schon direkt direkt daran erkennen, dass es nur halb so lang ist. Der Gitarrist spart sich den deutlich komplexeren zweiten Teil des Liedes.
Stellen wie die Harmonics würden auf der klassischen Gitarre, die er benutzt auch wirklich schwierig umzusetzen sein.
Dazu vereinfacht er viele der Griffe. Vergleiche z.B. 1:56 bei Sungha Jung mit 2:03 bei John Ilkenhons. Die Melodie ist die gleiche, aber er verzichtet auf viele zusätzliche Töne, damit das ganze spielbar bleibt. Auf der klassischen Gitarre sind diese Griffe, wo ein Finger 3 Saiten abdeckt super schwierig, weil die Saiten viel weiter auseinanderliegen und die Finger dann einfach nicht groß genug sind.
Aber auch hier: Man merkt, dass John da weiß was er macht. Die Melodie trägt schön und ist permanent lauter als die Begleitung. Er unterstützt das häufig durch so Mini-Vibratos, was auf der klassischen Gitarre ein guter Weg ist Töne zu exponieren.
Es ist aber ein vergleichsweise simples Arrangement ähnlich diesem hier:
https://www.songsterr.com/a/wsa/joe-hisaishi-spirited-away-ost-one-summers-day-tab-s389617t0
Da sind nur 2-3 mittelmäßig schwierige Griffe drin udn die Tabulatur macht es schwierig zu erkennen welche denn nun die Melodietöne sind, aber das könnte ich sicherlich mit 8-10h Übezeit quasi fehlerfrei vorspielen, wenn ich mir die Mühe machen würde für ein paar Stellen Fingersätze zu schreiben und einige Stellen würde ich umsetzen, weil ich die etwas sinnfrei arrangiert finde, aber im Großen und Ganzen ist das ein nettes kleines Arrangement.
Ist aber bei weitem nicht mit dem von Sungha Jung vergleichbar. Vor allem was die Wirkung betrifft.
Der John Ilkenhons hat auf jeden Fall einen guten Teil "klassische" Musik gespielt, ich bin mir aber nicht sicher, ob er eine klassische Ausbildung hat.
Seine Haltung wirkt auf mich etwas verkrampft und die Technik der rechten Hand lässt auch noch Luft nach oben. Er spielt häufig Tonwiederholungen mit demselben Finger. Mag sein, dass er das aus klanglichen Gründen macht, aber da verschenkt er mMn Potenzial.
Beispiel: Wenn bei 0:12 die Melodie (vier Tonwiederholungen) einsetzt, spielt er alle Tonwiederholungen mit dem Ringfinger. Das ist irgendwie unglücklich, weil es leicht unregelmäßig wird und außerdem sind alle Töne gleich laut. Das ist aber nicht korrekt. Die letzte, vierte Tonwiederholung müsste eigentlich lauter gespielt, weil dort eine Betonung im Takt liegt. (Sungha Jung spielt übrigens die Tonwiederholungen überhaupt nicht. Eine vergleichbare Stelle findet sich bei ihm aber bei 1:39 mit einer dreifachen Tonwiederholung, wo er dann den entsprechenden Ton mit der Betonung auch laut spielt.)
Was ich John aber zugute halte, ist, dass er sich viele Gedanken über den Sound macht. Das fängt schon dabei an, dass er mit Nägeln spielt. Auch wenn sein Ringfinger nicht sauber gefeilt ist und an manchen Stellen "hakt".
Aber er hat hier eine Dimension im Sound, die vielen Gitarristen vollkommen verschlossen bleibt.
Ich finde das ein sauber gespieltes Stück. Aber die Komplexität und Interpretation ist bei weitem nicht auf Sungha Jungs Niveau
Wie sollte ich anfangen um genau zu diesem Punkt zu kommen was ich lernen muss ohne Umwege?
Es wird immer Umwege geben. Fang doch erstmal überhaupt an. Wenn du dir einen Lehrer suchst, wird der dir sicher Vorschläge machen und Material geben.
Das hängt alles ein bisschen von dir und deiner Person ab. Manch einer übt gerne stundenlang Tonleitern, mich kannst du mit sowas jagen. Ich spiele dann lieber Etüden.
Dir fehlen aber einfach noch so viele Skills, dass es egal ist, womit du anfängst. Du bist erstmal immer auf dem richtigen Weg.
Such dir irgendetwas wo du Spaß dran hast.
Deine Frage ist so ein bisschen wie wenn jemand der nicht lesen oder schreiben kann fragt: "Wie schreibe ich einen Roman, der in den Bestseller-Listen landet?"..
Man kann das nicht beantworten. Jeder muss seinen Weg finden und es gehört mehr dazu als reine Technik. Aber erstmal die Buchstaben lernen wäre sicher ein Anfang.
Für die Musik:
Du braucht Technik: Fingerfertigkeit, Muskelaufbau, Gedächtnistraining, Musclememory, Reflexe, Haltung, etc... Es ist egal an welchen Stücken du das übst. Jede Übung hilft dir weiter.
Du brauchst Wissen: Über musikalische Strukturen, etc. Als ich eben diese simple Arrangement gespielt hab, sehe ich in der Tabulatur Betonungen, die da nicht explizit drinstehen, aber ich weiß dass sie da sind. Ich sehe Akkorde, ich sehe Griffe, ich sehe, dass dort Pausen fehlen und Tonlängen nicht korrekt eingezeichnet sind, weil sich der Arrangeur nicht die Mühe gemacht hat mehrere Stimmen zu differenzieren, ich sehe Zusammenhänge, Auftakte, ich sehe die Melodie (meist) und ich sehe die Begleitung. Ich sehe verschiedene Lautstärken. Das steht da alles nicht explizit drin, aber mit Erfahrung "weiß" man solche Dinge.
Du brauchst einen Plan von dem Stück: Wann man mal "anhält", wann man den Sound verändert: Vom Spielen an verschiedenen Positionen auf der Gitarre bis hin zu Dingen die Sungha Jung macht, wo er über den Winkel mit dem sein Finger anschlägt den Sound von hart bis weich verändern kann.
... und und und..
Man lernt da nie aus.
Wenn du sowas in der Art spielen willst, ist sowas wie eine klassische Gitarrenschule sicher nicht verkehrt. Auch die schon empfohlenen Bögershausen-Sachen sind sicher gut. Ich persönlich mag auch viele (Irish) Folk Arrangement.
Aber du brauchst auch was, wo du erstmal die Grundlagen aufbaust: Wo ist welcher Ton auf der Gitarre, wie schlage ich richtig an.. und und und..
Wenn du dir einen Lehrer suchst, lass ihn einfach seinen Job machen. Dazu ist er da. ;-)