Nein, die Verantwortung fur die Flüchtlingswelle - und alle daraus entstehenden persönlichen Schicksale seitens der Flüchtlinge und der aufnehmenden Bevölkerung - tragen die Obrigkeiten in den Ländern, aus denen die Flüchtlinge fliehen.
Deutsche und europäische Politiker haben (leider) kein Befügnis, die politisch-gesellschaftlichen Zustände in anderen Ländern zu ändern.
Das sehe ich anders - und das ist auch anders. (Mehr als pointierte Zuspitzungen sind hier allerdings nicht möglich - und mir ist klar, dass das insgesamt ein weites und differenziertes Bild ist.)
Deine These ist ja: die deutsche und europäische Politik kann sich nicht in die internen Angelegenheiten afrikanischer Länder einmischen und damit sind ihr die Hände gebunden. Das ist einerseits richtig.
Andererseits regiert Europa und Deutschland seit Jahrhunderten (Stichwort Kolonialismus) direkt in Afrika rein und hört damit nicht auf. Nur ein paar Punkte:
- EU-subventionierte Lebensmittel sind ein wesentlicher Faktor dafür, dass sich kein Lebensmittelbinnenmarkt in Afrika entwickeln kann. Das ist bekannt - aber es wird nichts dagegen getan.
- Die Entwicklungshilfe ist zum verlängerten Arm europäischer Wirtschaftsexporte verkommen. Es geht darum, die afrikanischen Länder den Marktinteressen zu öffnen und sich dabei Vorteile zu verschaffen.
- Afrika ist ein Spielball geostrategischer Interessen sowie der Sicherung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten. Diktatoren und unterschiedliche Machtcliquen werden je nach europäischen Interessen aufgebaut oder bekämpft, Bürgerkriege befeuert, Länder stabilisiert oder destabilisiert.
- Die Globalisierung geht von europäischen Konzernen und Ländern aus, Regulierungen der Konzerne müßten über Standards ebenfalls von hier aus gehen: Dass europäische Konzerne mit Schiffen unter Billigflagge etc. hier landen und liefern dürfen ist alleine das Versagen der hiesigen Politik - nur um ein Beispiel zu nennen.
- Der Aufkauf und der Handel von Rohstoffen passiert an hiesigen Börsen - und die Regeln werden hier gemacht - bzw. die Regelfreiheit geht von hier aus. Stichwort: Wer hat die Macht am Weltmarkt? Stichwort: Nestle und der Aufkauf von Wasserreserven: Du wirst in den nächsten Jahren haufenweise das sehen, was sich gerade im kleinen in Vittel abspielt.
- Ab wann entstand die Seepiraterie an einigen afrikanischen Küsten? Richtig: nachdem europäische, hocheffiziente Hochseefischerei deren Küstenregionen leergefischt hat, nachdem die vorher geschützten Seemeilenzonen verändert wurden und dadurch die dortigen Fischer kein Einkommen mehr hatten.
- Wer mal beobachten will, wie Destabilisierung, Einflußnahme und Stellvertreterkriege funktionieren, kann bei Syrien, Israel und Iran (nach Irak) gerade live zuschauen.
- Waffenexporte wären ja auch noch mal ein Thema (Wer Waffen und Krieg exportiert, wird Flüchtlinge ernten).
Statt Afrika kann man auch andere Länder und Kontinente nehmen, und neben Europa sind natürlich auch die USA sowie Russland und China etc. beteiligt.
Und mir ist klar, dass es viel zu schwarz-weiß wäre, den schwarzen Peter alleine nach hierhin zu schieben.
Und mir ist klar, dass auch hierzulande die international agierenden Konzerne mit Samthandschuhen angefaßt werden.
Und natürlich ist Europa mehr als Deutschland und ich weiß auch, dass man das nicht von heute auf morgen in den Griff bekommt.
Aber dieses - bewußt hier und jetzt überzeichnete - Bild: hier sind die deutschen Politiker, die leider, leider, leider gar nichts an dem Elend in der dritten Welt machen können und leider, leider, leider zuschauen müssen, wie diese verrückte Welt in der dritten Welt unter dem Einfluss ihrer korrupten Eliten vor die Wand gefahren wird und leider, leider, leider nicht nur davon profitieren, sondern ungeheuerlicherweise über die internationalen Migrationsbewegungen in ihrem täglichen Betriebsablauf gestört werden.
Jed - ich will Dir das so gar nicht unterstellen.
Ich kann es nur auch nicht so stehen lassen und habe Dein Zitat mal aus Ausgangspunkt für meine Gegenrede genommen.
DAS ist es letztlich - um noch mal den Bogen zum Text zu bekommen - was es für mich so schwierig macht: In einem songtext kann man der komplexen Lage überhaupt nicht gerecht werden. Das füllt Bände.
Was bleibt, ist der Mut zur Lücke - das wäre die eigene Position, die man streitbar in den Raum wirft.
Was bleibt, wären Fragen - das wird einer Situation gerecht, in der man nicht urteilen mag, aber nicht schweigen kann.
Was bleibt, wären Beobachtungen - aber man muss sich darüber im klaren sein, dass es ohne einen Beobachter keine Beobachtung gibt: Sich als Beobachter ins Spiel zu bringen, ist
für mich zwingend. Man ist nicht neutral, man schwebt nicht über den Dingen: Jeder ist eine konkrete Person mit konkreter Perspektive, verortet in Raum und Zeit, Kultur und Geschichte, Geschlecht und Alter, Erfahrungen und Träumen: keine/r ist "man".
Was bleibt, wären Geschichten - bewußte narrative Teile eines Puzzles, einer Erzählung, die genau hinschaut, aber den einfachen Schluss vom kleinen auf das Große vermeidet.
Was bleibt, wäre Widerstand - und sei es der Widerstand gegen den Sog der Verzweiflung, gegen die Gleichgültigkeit, gegen das einfache Hinnehmen des Status Quo.
Die Intention des Textes, das Schwarz-Weiß-Denken aufzulösen, die mag ich glauben. Aber für mich reiht der Text drei kurze Schilderungen, die alle schwarz-weiß sind, aneinander. Das bringt keine Differenzierung, sondern die Verdreifachung von schwarz-weiß.
Was ich damit meine, ist beispielsweise: Der Mann, der eine Frau in einer deutschen Stadt niedergestochen hat, war Flüchtling. Das kann man wissen, das kann man beobachten. Aber welche Rolle spielt dabei der Aspekt des Geflüchtetseins? Schließlich stechen auch deutsche Männer bzw. Männer jeglicher Herkunft Frauen ab. Ich will das hier nur andeuten: Es ist eine Beobachtung - aber trifft sie etwas, was die Wirklichkeit herstellt? Oder ist es nur ein äußerliches, zufälliges Phänomen? Wenn bei soundsoviel Männern so und so viele dabei sind, die Frauen erstechen, ist es doch klar, dass da auch Flüchtlinge drunter sind - genauso wie Schachspieler, Bartträger, Musiker oder Sockenträger. Was ist hier Interpretation und was Beobachtung? Und wenn es Interpretation ist: warum wird es geschildert als sei es "reine" Beobachtung?
Genug geschrieben - das heißt: immer noch zu wenig und zugleich schon zu viel.
x-Riff