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broeschies
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Ich finde das alles sehr interessant. Wie gesagt: Ich denke dass die "voce faringea" gesangstechnisch möglicherweise vergleichbar ist mit dem, was man heutzutage im Contemporary als "Fake-Belt" oder "faux belt" bezeichnet, also ebenfalls ein auf dem Falsett aufbauender Mechanismus, der klanglich oft schwer von der Modalstimme zu unterscheiden ist. Mein persönliches Interesse ist, ob diesem Modus tatsächlich auch der gleiche Vibrationsmechanismus zugrundeliegt wie dem Falsett, oder ob es möglicherweise auch auf Stimmlippen-Ebene einen Unterschied gibt. Die EGG-Signale unterscheiden sich ja zumindest schonmal visuell vom Falsett-Modus.Hallo,
Zunächst freut es mich, dass meine Forschung - bzw. Ein Teil meiner Forschung - hier so ausgiebig diskutiert wird .
Wahrscheinlich hilft es aber dem weiteren Verständnis wenn ich in aller Kürze auf mein Forschungs-Setting eingehe.
Die Webseite www.voce-faringea.com habe ich ergänzend zu meiner schriftlichen Dissertation eingerichtet, um Audio Samples, die in der Arbeit besprochen werden zur Verfügung zu stellen.
Ich kann Dich beruhigen, dass die beiden, auf der Webseite verlinkten Studien nur ein Teil des Dissertationsmaterials darstellen.
Ich habe mehr als 100 historische Quellen (Gesangstraktate, anatomische und physiologische Abhandlungen,…) bezüglich der voce faringea sowie zeittypischer Registerkonzepte, gemischter Phonation, Klangideale, etc. analysiert und versucht, anhand dieser Informationen diese in Vergessenheit geratene historische Gesangspraxis künstlerisch und musikhistorisch zu rekonstruieren (1. Abschnitt der Diss) und mittels physiologisch-akustischen Studien (2. Abschnitt der Diss) zu dokumentieren. Das Forschungskonzept sah eine interdisziplinäre Verknüpfung unterschiedlicher künstlerischer und wissenschaftlicher Methoden vor, um möglichst valide Ergebnisse zu erzielen. Die physiologischen Studien habe ich u.a. zusammen mit Johan Sundberg, einem der weltweit renommiertesten Stimmforscher an der KTH in Stockholm durchgeführt.
Aus Zeitgründen kann ich leider im Moment nicht ausführlicher auf die Charakteristika der sogenannte artistic research (art based research) eingehen, werde aber gerne am Ende des Postings einige erklärende Absätze aus der Diss einfügen – nur soweit: die Untersuchung mehrerer Probanden wäre für die aristic research unerheblich gewesen (im Zentrum der künstlerischen Forschung steht der Künstler und die Reflexion künstlerischer Prozesse – Texte zur künstlerischen Forschung, etwa von Henk Bordorff sind auf der Webseite der künstlerisch wissenschaftlichen Doktoratsschule der Kunstuniversität Graz verlinkt) – da ich meine Erkenntnisse aber auch im Umfeld der traditionellen voice science vorstellen möchte, ist eine breiter angelegte Studie (mit mehreren Probanden) in Planung.
Zum Thema subglottischer Druck:
Alle Beispiele auf der Webseite wurden mit relativ geringem subglottischen Druck gesungen. Wir haben zwar in einer Studie „Strömungsglottogramm- und EGG-Parameter in den Stimmregistern: Modal, Falsett und voce faringea“ in der voce faringea (Bezeichnung geht auf Edgar Herbert Caesari zurück – wahrscheinlich abgeleitet von Marc Colombat de L’Isere Terminus voix pharyngienne) durchschnittlich geringere Psub Werte gemessen als im Countertenor-Falsett (eine mögliche Erklärung für die unerwarteten Messergebnisse habe ich auch geliefert), dennoch gehe ich davon aus, dass in der voce faringea üblicherweise höhere subglottische Drücke notwendig sind als im Counter-Falsett – jedoch deutlich geringere als im Modalregister (bei männlichen Opernsägern werden subglottische bis etwa 60 cm H2O gemessen)!
Es lassen sich also in der falsett-dominanten voce faringea in höchsten Lagen Klänge erzeugen, die kaum mehr von modalen Tönen zu unterscheiden sind, aber wesentlich ökonomischer und mit geringerem subglottischem Druck erzeugt werden. Diese Töne sind auch problemlos vom Pianissimo bis zum Fortissimo schwellbar (messa di voce).
Zum Beispiel 49: es zeigt den Übergang von einer modal-dominanten mezza voce (Piano, geringer subglott. Druck, geweiteter epilarygeal Sphincter – absichtliche Verringerung der akustischen Verstärkung und daher leise) in die voce faringea. Es sollte damit demonstriert werden, dass der Übergang von einem modal-dominanten Mix in einen falsett-dominanten Mix mit etwas Übung fast unhörbar zu machen ist.
Ich habe auf der Webseite auch noch einige aktuellere EGG-Beispiele eingefügt, die den Unterschied zwischen Falsett und voce faringea noch stärker verdeutlichen (Knie in der Kurve – schon fast wie im Modalregister). Bei Live-Demonstrationen konnten einige Kollegen keinen klanglichen Unterschied mehr zum Modalregister wahrnehmen (erst durch den von mir absichtlich verdeutlichten Bruch zum Modalregister konnte ich belegen, dass es sich bei der stark modalisierten voce faringea um eine falsett-dominante Phonationsart handelt).
Hier noch einige Absätze meiner Diss zur Erklärung des Forschungs-Settings:
Ziel meiner artistic research ist die künstlerische und wissenschaftliche Rekonstruktion dieser in Vergessenheit geratenen Kunst. Folgende Fragen sollen dazu im Rahmen vorliegender Arbeit beantwortet werden: Was sind die gesangsphysiologischen Bedingungen zur Erzeugung der voce faringea? Liefern historische Quellen wie Gesangstraktate oder physiologische Abhandlungen nützlich Hinweise, wie man diese Stimmfunktion seinerzeit in der Gesangsausbildung vermittelte? Lassen sich die Unterschiede zwischen den Stimmregistern Modal, Falsett und voce faringea mittels moderner Messmethoden darstellen und dokumentieren? Vor allem aber soll diese historische Phonationsart im Rahmen dieses künstlerisch wissenschaftlichen Dissertationsprojekts wieder sinnlich er-fahrbar und für die künstlerische Interpretation der Gesangsliteratur – insbesondere jener des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch der anderer Epochen – nutzbar gemacht werden.
Aufgrund ihrer spezifischer Eigenheiten und Herangehensweisen differenziert Jens Badura grundsätzlich zwischen drei unterschiedliche Projekttypen künstlerischer Forschung: Der erste Typus generiert seinen Erkenntnisgewinn aus dem Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft. Forschungstyp 2 entspricht der Ent-wicklung neuer ästhetischer Strategien und Verfahren: künstlerische Forschung als ästhetische Entwicklungsarbeit. Künstlerische Praxis als Medium der Selbstreflektion stellt die Forschungsgrundlage des dritten Projekttypus dar.
Das Forschungs-Setting dieser artistic research entspricht dem zweiten Projekttypus. Die künstlerisch ästhetische Entwicklungsarbeit basiert dabei auf einer interdisziplinären Verknüpfung künstlerischer (experimenteller) Praxis mit musik-historischer, akustischer und physiologischer Forschung. Die eigene Stimme dient dabei gleichermaßen als Vermittlerin zwischen den Disziplinen sowie als Forschungsobjekt, Experimentierwerkzeug und Objektivierungsinstrument. Die Wechselwirkung von künstlerischer Praxis und einem permanenten reflexiven Objektivierungsprozess mittels moderner physiologischer und akustischer Mess-methoden stellt das methodische Fundament meines künstlerischen Forschungsprojektes dar.
In vorliegender Arbeit werden zunächst die gesangshistorischen Grundlagen für die wissenschaftliche und künstlerische Rekonstruktion der voce faringea abgeklärt. Historische Quellen wie Gesangslehrwerke und physiologische Schriften werden bezüglich zeittypischer Stimmregisterkonzepte und Registerterminologie sowie praktischer Vorgehensweisen zur Bildung und Verwendung bestimmter Registermechanismen untersucht. Die so gewonnenen Erkenntnisse bildeten stets die Basis für das künstlerische Experimentieren mit den Stimmregistern Modal und Falsett. Die im Rahmen des Projekts durchgeführten physiologischen und akustischen Studien belegen im Folgenden nicht nur die Ergebnisse meiner Untersuchung, sondern sind auch gleichzeitig Dokumentation eines dreieinhalb-jährigen künstlerischen Entwicklungsprozesses.